aber nicht überall

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[STAR STUDIES #2]

1    immer mehr oder weniger, als man sein soll

Du bist in New York City, Manhattan, im Village, und du kennst dich ziemlich gut aus, in den Straßen der Stadt. Denkst du. Aus so vielen Filmen und Serien kennt man das. Denken deine Augen. Und dann, auf einmal, merken sie, sie kennen nichts. Und du läufst eine Straße herunter, immer noch benommen von dieser Mischung aus kältestem Schatten und brutalem Sonnenlicht. Du bleibst stehen, deinen Coffee To Go in der Hand, um zwei Jungen zuzusehen, die sich streiten, um ein Videospiel. Und auf einmal hält dir jemand die Augen zu, hält sie für fünf Sekunden zu, und du hältst es nur fünf Sekunden aus, weil du Angst hast, und nach genau fünf Sekunden sagt eine Stimme: Guess who, löst die Hände, du drehst dich um und glaubst es nicht. Für einen Augenblick nur, sehr kurz, vergißt du, zu tun, was du immer tust. Du bist außer dir. Für einen Augenblick bist du Teil von jemandem, den du gar nicht kennst. Oder doch kennst? Doch! Aus den alten Zeiten des Kinos. Und niemand, niemand glaubt dir.

Ich weiß nicht, wie oft in meinem Leben das Kino mein Leben gerettet hat. Wie oft ich im Dunkeln gesessen habe und geweint, und niemand sah es. Ich weine, wenn etwas bricht. Ja, ich kann nicht anders. So wie andere weinen, sobald Whitney Houston singt, zu flimmernden Bildern, muß ich weinen, sobald die Handlung bricht, die Handlung, die ich vor mir sehe, sich einem Bruch aussetzt, aussetzen muß, wenn in diesem Bruch etwas aussetzt, die Zeit, das Handeln, das sonst so gewiß scheint, überhaupt die immer so selbstsichere Realität. Wenn dieser Bruch darin besteht, daß das, was vorher war, nicht mehr unausweichlich ist, sondern selbst ein Bruchteil. Und auf einmal sagt nichts mehr: So ist es, so und nicht anders! Ein Schock. Es ist nicht alles einfach so, es ist mal so, mal so und mal so, und wie ist es jetzt gerade, mal schauen, ja?

Kann es sein, daß das Poetische sich dort aufhält? Und, mehr noch: Daß dort auch das Politische sich bewegt? In einem Riß der Wahrnehmung? Haben sich das Poetische und das Politische dieselbe Stelle ausgesucht, um zu erscheinen, oder ist es nur derselbe Zeitpunkt, und sind die beiden gemeinsam da, aber immer in Abstand zueinander? Na, na, na, Politisches und Poetisches gehören NICHT zusammen. Politisches ist doch der Welt zugewandt und Poesie etwas der Welt Entrücktes. Ja, gut, aber welcher Welt? Doch bitte nicht der Welt der Erfahrung, die zu machen ist, jeden Tag. Denn DIESER Welt ist alles entrückt, was uns heute entgegenblickt, in Magazinen, in Celebrity- und Politiksendungen, in den Talkrunden, egal, wer da sitzt: dieses totengleiche Gesicht eines siebzehnjährigen Models, das so tut, als wär alles längst klar. Hier greifen alle erdenklichen Bestrebungen politischer, ökonomischer, sozialer Art zusammen, und werden zu einer einzigen Bestrebung mit einem einzigen Gesicht. Es ist leer und doch das Gegenteil der Leerstelle, in der etwas knickt. Denn die führt »in jenen Bereich, wo die Regeln abbrechen und die Sprache erst gefunden werden muß« [Ludger Schwarte].

Der Bruch, die Leerstelle, von der hier die Rede ist, ist von unglaublicher Schönheit. Eine Schönheit, die fällt. Unter den Tisch. Dorthin, wo sie bloß nicht mehr zu sehen ist, nein, wir wollen diese Schönheit nicht, die keine ist! Wir wollen die Ästhetik und die Politik, die heute groß sind, zurecht, und die ihre Mittel verbergen, so geschickt! Hinter den Geschichten. Denen geht es ums Weitermachen. Darum, immer was zu sagen. Und immer mehr. Ah, warte. Da stimmt was nicht. Ich hab nix zu sagen. Also gehör ich ja gar nicht dazu? Nein. »Ich hab nichts zu sagen / und ich sage es / und das ist / Poesie / wie ich sie brauche« [John Cage] Es ist zugleich zu viel und zu wenig. Ein Zuviel und ein Zuwenig, die sich tummeln, wo die Geschichte bricht. Um das Spezifische dieser Denk-, Spiel- und Lebensweise herauszuarbeiten, könnte man einige reale oder literarische Figuren herbeirufen, in den Ring. Man könnte Heinrich von Kleist nehmen, man könnte Franz Biberkopf nehmen, man könnte Genets/Fassbinders Querelle nehmen, aber ich nehme ihn, seines Gesichts wegen lieber ihn: den großen, alternden Bill Murray. Dessen Leben EINE Performance ist. Die kleiner wird, immer kleiner. Und am Ende nur für einen da sein wird, einen, der zuschaut. Und es wird alles sehr schnell sein oder. Oder alles sehr langsam. Aber wer braucht schon das Kino, um sich mit der echten Welt zu beschäftigen? Jetz ma ehrlich! Mh. Ich glaub, ich.

 

2    das eigene Bild spielen

Wenn du aufwachst, in der Mitte der Nacht, und bist, wo du gar nicht bist. Und da bist nur du. Sonst niemand. Keine Nachbarn, keine Freunde, keine Telefonanrufe. Niemand, der dich so sieht, wie du gesehen werden willst. Du steckst fest. Zwischen Zeichen, die du nicht kennst. Zwischen Gesprächen, von denen du nicht mal einfache Phrasen verstehst. Zwischen Straßenzügen, in denen ein Lärm, ein Staub, eine Luft herumwirbeln, die sich anfühlen wie bisher nichts. Oh wow. Und wie sollst du da rausgehen in die Stadt und das machen, was du immer machst? Dein Bild spielen. In Lost In Translation ist es genau das: in einer fremden Stadt sein und das, was sonst nicht fremd wirkt, an mir selber, als fremd sehen. Bill Murray als Schauspieler Bob Harris dreht in Toyko eine Werbung für Whisky, und die japanische Filmcrew weiß genau, wie sie ihn sehen will. Der Regisseur will Bill/Bob dazu kriegen, so auszusehen, wie er aussieht, daß er ist, was er ist, nur das, nichts anderes. Und wenn das nicht stimmt, ruft er: Cut-o! CUT-O! CUT-O!!! Doch der Schnitt kommt nicht. Noch nicht. Der befreiende Schnitt, der Bill als Bob erlöst. Und: Nein, das ist keine genuine Erfahrung des 21. Jahrhunderts, ganz sicher nicht. Schon in der Kindheit, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um Neunzehnhundert, »wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten« [Walter Benjamin]. Und doch ist es anders, inzwischen wieder anders. Die Bilder selbst gieren nach uns. Ach, selbst schuld. Du warst so dumm. Wer sich in ein Bild begibt, kommt darin um.

Vor den Überwachungskameras, auf den Glasscheiben der Geschäfte in Shopping Malls, auf dem roten Teppich und dem grünen Hügel, in den Konzertsälen, den Lesungssälen, Wartesälen, in den U-Bahnen, S-Bahnen, an Flughäfen, in den Bekleidungsläden, Plattenläden, vor den Plattenbauten, im Fitnesscenter, Wellnesscenter, Rewe-Center. Überall ist es mir zuvorgekommen. Mein Bild. Seit wann ist das so? Daß nur das Sichtbare an mir zählt? Daß DAS die öffentliche Dimension ist, die ich noch habe? Mein Körper nur so, wie er abgebildet werden kann und eingeschleust in die globale Zirkulation von Bildern, für die gezahlt werden muß. Früher, ja, früher, da ging ich mit meinen Freunden ins Kino, um Bill Murrays neueste Komödie zu sehen, oder wir zogen uns zum xten Mal Ghostbusters rein, auf VHS, aber wir lebten IN diesen Filmen. Wir mußten alles kommentieren, wußten genau, was wird passieren?, kannten die Dialoge auswendig. Heute sitze ich hier und will selbst das Kino sein. Andere wollen das Geschehen kommentieren, vorhersagen, wie es mit mir weitergeht, und ich, ich versuch mich an Dialogen. Die immer entgleiten. Die Bilder, die wir abgeliefert haben, sind größer geworden, viel größer als wir selbst. Bilder, die uns heimsuchen? Oh no! Who you‘re gonna call?

Ah, das Telefon. Bill Murray? Ich soll Ihnen helfen? Sie wollen sich selbst beim Schlafen filmen? Was soll das heißen, Sie sind überzeugt, daß Sie sich selbst schlafen sehen können, wenn Sie schnell genug aufwachen? Ihr Gesicht sieht im Wachzustand gar nicht mehr anders aus als im Schlaf! Wann ist mir das zum ersten Mal aufgefallen? Daß Bill Murray mit dem Gesicht immer weniger spielt und immer mehr einfach da ist? War es, als ich selbst in einem Hotelzimmer saß, müde und aufgekratzt, nach einer Lesung? Sah ich dort, in diesem Hotelzimmer, zum ersten Mal Lost In Translation und Bill in seinem Hotelzimmer? Und ist es Zufall, daß Murray in einem Film, der in Tokyo spielt, seine Kunst einer Mimik, die kaum noch ist, so weit führt, ausführt, so aufführt, daß etwas bricht? Ja, ich weinte.

Ich weiß so gut wie nichts über das Leben Bill Murrays. Als Teenager war er Leadsänger einer Rockband und stand auf der Bühne, im Community Theatre und in der High School. Später die ersten Komödien. Die ich liebte und liebe. Und dann eine Unterbrechung. Die immer noch anhält. Bill Murray ist in einer Spielweise angekommen, die zugleich alles, was er seinen Figuren in den Anfängen gab, auch in Ghostbusters, auch in Groundhog Day,  die all das berührt und zugleich maximal entfernt ist, davon. Wie anders war Bill Murray in den Achtzigern, Neunzigern! Charmant, wortgewandt, selbstsicher, so trat er für uns auf, nicht nur als Geisterjäger Dr. Peter Venkman. War das nicht das, wie Bill Murray EIGENTLICH ist? Und er spielt auch jetzt noch den Helden, der mit Understatement im Witz und Übertreibung im Charme die Frauen kriegt. Äh. Nicht kriegt. Nicht mehr. Und sein Gesicht kriegt das mit. Das Gesicht von Bill Murray spielt noch mit, ja, aber immer weniger mit der Handlung, die da abläuft, vor ihm. Unbeteiligt? Neinnein, es ist beteiligt, sogar sehr. Nur mehr an dem, was noch nicht aufgegangen ist oder erledigt, als an dem, was gewesen ist, definitiv genau so gewesen ist. Yeah, I think it was ‘82. I dunno. That part of life is getting fuzzy.

Wie funktionieren die Bilder um uns herum? Sie rufen uns an. Sie zwingen uns, Posen anzunehmen, Positionen einzunehmen, die wir nur mit größter Anstrengung einnehmen können. Nicht im Stehen. Wir stehen zwar herum, auf dem Red Carpet, und dort reicht es, wenn wir uns ab und zu drehen. Doch dann, dann werden wir angerufen und rennen, rennen los, durch Räume, verschiedenste Räume, um die Strecken, die unser Bild schon hinter sich hat, nachzuholen, um alle Vorteile, die verbunden sind mit ihm, einzuheimsen auf dem Weg, alle Bedrohungen, Verbote, Zwänge in Kauf zu nehmen, ja, das ist Arbeit. Schwerste, für unseren Körper absolut anstrengende Arbeit, die dich wohin bringt?, durch diese Räume bringt und an die Grenze. Und doch läßt sie uns allein. Diese Arbeit setzt uns anderen aus, stellt uns vor sie hin, und am Ende sind wir allein. Manchmal ist das ganz gut. Ich will nicht unbedingt eine Beziehung mit jemandem haben, mit dem ich nicht gerade arbeite. Und wenn wir über die Arbeit sprechen, laß uns über Arbeit sprechen, aber ich will nicht rumhängen und den ganzen Scheiß. Dieses eigentliche Hollywood-Ding. Oh Mann. Ich will gehen. Mein Gesicht will gehen. Und ist kurz davor.

Ich bin wie eine Leinwand, die sich immer wieder selbst gestalten kann. Sagt Katy Perry, eines der neuesten Sternchen im Popmusikbiz. Immer wieder ein neues Bild aufbauen, damit es dir immer neu Kraft gibt. Wenn der Erfolg deines Bildes dich befeuert, beim Arbeiten, beim Durchhalten, beim Ficken. Ja, das ist es, deshalb kommen wir so schlecht los von ihnen, von den Bildern. Wie bitte konnte Bill Murray sich lösen? Ich bin eine Leinwand, die sich nie selbst gestalten will, sagt er. Ohne es zu sagen. Nein. Nein, nein. Niemals! Ich kenn das. Am ersten Tag checkst du im Hotel ein, in L.A., und du hast schon eine Nachricht unter der Tür. Am zweiten Tag sind es elf. Am dritten, dreißig, vierzig, siebzig. Und was wollen sie? Sie wollen nur frisches Blut. Wollen. Frisches. Blut. Du solltest raus hier, zur Hölle nochmal.

Was ist mit Bill Murray passiert? Ist er launisch? Einfach nur alt, müde? Wenn sein Gesicht nichts macht: Denkt er an etwas Vergangenes oder an das, was noch kommen kann? Wie er die Geschichte stillstellt, oder zumindest stocken läßt. Ja, ich selbst muß nicht mal stocken, es reicht, wenn ich nichts mache, mit dem Gesicht, zumindest nicht sichtbar. Ein Gesichtsausdruck, der nichts mehr ausdrückt, der dadurch vor allem ausdrückt, daß es Regeln geben muß für den Gesichtsausdruck. Und das sieht man. Sein Gesicht ist zur selben Zeit kein Gesicht und alle Gesichter, die es gibt. Und das erinnert es, das Gesicht. Es erinnert andere Gesichter, die es nie war, und sehr gern auch die, die es niemals sein wird. Ich wette, du hast eher einen Typen erwartet, der im Starbucks rumhängt und Gedichte liest. Nönö. Echt nich. Nicht alles hat eine Moral, weißt du, ich hab ja auch keine. Einem Gespräch zuhören, und hören, daß einer der beiden, die das Gespräch führen, nicht zuhört. Und das bin ich.

 

3    This isn‘t happening

Ein blauer Himmel mit ziehenden Wolken, dazu eine Stimme. Somebody asked me today: Phil, if you could be anywhere in the world, where would you like to be?, and I said to him: Right here. Das ist der Beginn von Groundhog Day, 1993. Bill Murray als Wetteransager vor einem Blue Screen, wie er Wolken wegpustet. Genauer: Bill Murray gleichzeitig vor dem Blue Screen, also live im Studio, UND auf dem TV-Schirm, mit Wolken im Hintergrund. Zwei völlig getrennte Aktionen, der pustende Bill Murray und die ziehenden Wolken, kombiniert zu einer. Die Vortäuschung eines Zusammenhangs. Fast zwanzig Jahre später erinnert sie an die großen Täuschungsaktionen, die uns entgegentreten, überall, und seit 9/11 immer schärfer, härter Expertenwissen, Politik und Glamour ineinanderschneiden, MTV-like. Es sind verschiedenartige Bewegungen: Experten, die Kriege, Anschläge oder Börsenkurse erklären, im heimlichen Wissen, daß alles, was sie sagen, relativierbar ist. Politiker, die Fakten schaffen und die Fiktionen gleich dazu, die durchgreifen und aufmarschieren, im Namen einer zur einzig wahren und klaren erklärten Realität. Stars, die sich auf den roten Teppichen von Hollywood über Cannes bis zum Potsdamer Platz drehen, im Blitzlicht. Und die höchste dieser Entwicklungsformen: die wenigen, die alles auf einmal sind, ein Amalgam aus Theorie, Durchsetzungskraft und Glanz. Bewegungen, die eigentlich mal getrennt waren, aber durch ein globalisiertes Blue Screen-System automatisch verbunden werden, zu einem Zusammenhang, der nicht mal mehr vorgetäuscht ist, nein. Denn was real [riəl] ist, ist real [re‘a:l].

Diese Gesichter haben ein riesiges Repertoire an Ausdrücken, für jeden Ausnahmefall, jede Grenzsituation ist etwas dabei. Das Spiel immer gleicher Bewegungen, auch wenn die Themen und Bühnen wechseln. Alles Lustvolle, alles Überschreitende an diesem Spiel, ist verschwunden. Ein Vermögen, das nur weiß, was es heißt, zu sein, und das mit aller Kraft abwehrt, mal etwas nicht zu sein. Jeder spielt sich selbst. Und doch liegt am Grunde ein und dasselbe Gesicht. Bill Murray, auch wenn er sich selbst spielt, spielt niemals sich selbst. In Coffee And Cigarettes entdecken RZA und GZA, Rapper des Wu Tang Clan, daß der Typ, der ihnen Kaffee einschenkt, niemand anderes ist als Bill Groundhog-Day-Ghostbustin‘-Ass Murray. Und der sagt: Let‘s keep that just between us! Oder in Zombieland: Da dringen die Überlebenden der Katastrophe in die Villa Murrays ein, und er selbst ist da, verkleidet als Zombie, damit die Zombies draußen ihn nicht erkennen, und als er vor den Nicht-Zombies den Zombie spielt, zum Spaß, wird er erschossen. Da, wo er zu sehr eins wird mit dem Bild, das er abgibt, kommt der Tod. Meist versucht Bill Murray aber auch nicht, er selbst zu sein. Im Gegenteil. Ja, ihr kennt mein Gesicht, die Übellaunigkeit, die Ruhe und leichte Ironie, und wenn ihr es anschaut, erinnert ihr euch an Dinge. Sich erinnern, als wären Dinge gestern, nee, heute oder auch morgen. Oder nie. Das Gesicht als Gedankenstrich. Diese Stelle, in der jede einzelne Bewegung – Glamour, Wissen und Politik – an ein vorläufiges Ende kommen, und alle gemeinsam auch. Was? Zu unverständlich? Gut, nochmal!

Ein häufiger Untertitel in der untertitelten Fassung von Lost In Translation ist: Gespräch unverständlich. Auch am Ende. Auch dann, als Bill Murray Scarlett Johansson einholt, mit den Worten: Hey you, und als sie sich umarmen, zum ersten Mal, kurz vor dem ersten und letzten Kuß, und er beugt sich hinunter und flüstert in ihr Ohr. Flüstern, unverständlich. Das ist der Untertitel. Und wie kann das sein? Daß mich dieses unverständliche Flüstern in so eine Trauer stürzt. Auch wenn das Lächeln der beiden beim Abschied und die bunten Aufnahmen in den Straßen von Tokyo und die optimistische Musik – zusammen eine Art Lächeln des Films – mich fröhlich machen könnten, ach ja, sie tun es auch, fröhlich und traurig zugleich. Denn daß unsere Körper immer auf mehr aus sind als auf das, was sie selbst sind, ist in diesen letzten Sekunden des Films zu sehen, als Bill Murray Scarlett Johansson etwas ins Ohr flüstert, von dem niemand weiß, was es ist. Niemand, nicht mal Sofia Coppola als Regisseurin weiß, was Bill Murrays Lippen in dieser von Bill Murray und Scarlett Johansson erfundenen Szene flüstern. Niemand außer Scarlett Johansson und Bill Murray weiß, ob es überhaupt etwas ist, oder ob sich seine untere Lippe nur leicht bewegt, während die obere reglos bleibt, schon trauernd über die Zukunft, die sich nie verwirklichen läßt, für die beiden. Keine gemeinsame Zukunft, weder im Film noch außerhalb des Films. Ein Atemholen, Atemanhalten der Geschichte, zum Glück, ja, denn während die Geschichte Atem holt, kann etwas anderes anfangen, zu atmen, ein zweiter Atem, in diesem Stillstehen. Was muß ich tun, um außer mir zu sein?

Bill Murrays Gesicht IST außer sich. Es sieht so aus, als wäre es das nicht, als wäre es mittendrin, aber abwesend. Stimmt auch. In all den Szenen in Lost In Translation, in denen er nur auf dem Hotelbett sitzt und schaut, einfach nur schaut, sonst nichts, Musik, Fernsehtöne oder Anrufbeantwortersprüche im Hintergrund. Es ist Bill Murrays Gesicht, das Walter Benjamin gesehen haben muß, als er schrieb, das Ausdruckslose habe die Kraft, »die falsche, irrende Totalität« zu zerschlagen, zum »Stückwerk«, zum »Fragmente der wahren Welt«. Sein Gesicht als die Darstellung selbst, die zutage tritt. Und die immer gemacht ist, von einem Subjekt in einem bestimmten Produktions- und Lebenskontext produziert und gelebt worden ist. Immer neu. Und immer anders. Immer? Ja, wie denn sonst? Äh, SO? Nein, bitte nicht, DAS ist Wahnsinn. Dieses: Ich-will-daß-es-so-klingt-wie-es- beim-letzten-Mal-klang!? Das ist Wahnsinn, weil es das letzte Mal gar nicht gibt. Es gibt diesmal. Und alles wird anders sein diesmal. Und ich finde, gute Schauspieler, die machen immer, oder wenn du gerade gut bist, jedenfalls, du machst es besser als das Script. Das ist dein fucking Job. Okay, das Script will es so? Schau her, es geht SO. Laß uns mal schauen, wohin wir kommen. Im Leben und in den Filmen, du weißt immer schon, was jemand sagen will, du hörst es, bevor sie es sagen. Und wenn du das unterbietest, nur ein bißchen unterbietest, fallen alle vom Stuhl. Es ist so klein und einfach. Und das ist schwer.

Komm, mach mir  mein Leben schwer!

Wie Bill Murray als Mister Bob Harris in einer Karaokebar in Tokyo singt, More Than This von Roxy Music: nicht schief, halbwegs gerade, ohne emotionale Höhe, mit Augen und Mundwinkeln und Falten, die nicht viel sagen, und wenn sie etwas sagen, dann so was wie: Ich brauch mal ne Pause. Eigentlich hab ich schon n paar Pausen gehabt. Ich bin n paarmal in den Ruhestand. Das ist super, weil du sagen kannst: Oh, tut mir leid, bin im Ruhestand. Und Leute glauben dir sogar. Bill Murray ist ein Star. Aber alles, was er tut, sagt: I‘m not a star anymore. Ich bin mehr. Ich bin alles und nichts, und das gleichzeitig. Was waren das für Zeiten, als wir immer noch spontan alles andere werden konnten! Was quatschst du denn da? Heute, heute kann jeder alles sein, ALLES, auch ich kann, mit meiner Kreditkarte in der Hand, auf einmal alles mögliche sein, ja, jaja. Diese unerreichbaren Geschichten! Ich kanns nicht. Du kannst es nicht. Kannst es nie.

Früher lebte ich mit den Kinofilmen. Heute schaue ich mir nur noch beim Leben zu. Und je mehr ich zuschaue, umso weniger lebe ich. Je mehr ich akzeptiere, daß ich Bilder bewohne, umso weniger verstehe ich. Je mehr ich mich diesen Bildern hingebe, in diese Bilder hineinbegebe, ohne zu merken, daß sie doch viel mehr sind als Bilder, umso weniger sind die Gesten, die ich hier mache, hilflos mache, meine. Was soll ich denn machen? Selbst Filme drehen? Selbst mehr Rollen übernehmen, eben nicht nur meine, nicht nur MEIN Bild? You‘re Bill Murray, I‘m everybody else! Sagt Mos Def als Mike in Be Kind Rewind von 2008, als er seinen Kollegen, gespielt von Jack Black, dazu überreden will, mit ihm Ghostbusters nachzudrehen. Vielleicht ist es das? Entweder alles spielen, alle möglichen Rollen, ganz bewußt, transparent für jeden. Oder gar keine. Das Gesicht herunterfahren, in den Ruhezustand. Und das spielen, was niemand sonst mehr glaubwürdig spielen kann. Liebe. Denn Liebe kann ja einfach DAS sein: sehen, daß wir hier sind und es diese Welt gibt. Mehr braucht es nicht. Da kannst du glänzen, soviel du willst. JA, KANN ICH! Ich bin nämlich Happening-Künstler. Na und? Ich bin Not-Happening-Künstler. Und was für Bilder entstehen da, wo alles unsichtbar bleibt?

 

4    broken powers

Das würde ich nur unter bestimmten Umständen machen. Sagt Bill Murray im März 2010 zu David Letterman. Ghostbusters III würde ich nur machen, wenn ich einer der Geister wär. Oder wenn meine Figur getötet würde, gleich am Anfang des Films. Oder beides. Die zwei Wege des Bill Murray: entweder herumsitzen und die Handlung aufhalten, mit unbeteiligtem Gesicht, oder auftreten und gekillt werden. Deshalb lassen Sie sich zweimal umbringen, 2009? Per Schuß, in Zombieland und erwürgt mit einer Gitarrensaite in The Limits of Control? Ich hab das Sterben auch nicht gleich draufgehabt. Du kannst viel lernen, indem du die Making-Ofs auf DVDs schaust. Du verstehst einfach, womit du es zu tun hast. Wohin du es bringen kannst. Und wohin zur Hölle haben wirs gebracht? Ich kann mich nicht beherrschen. Du kannst dich nicht beherrschen. Er/sie /es kann sich nicht beherrschen und bricht. Es ist leer hier. So leer. Und da, wo etwas leer geblieben ist, treffen wir aufeinander. Aber nie lang. Niemandem gehört das, was leer ist, für lang.

Komm doch. Es ist Platz. Sehr viel Platz. Auf meinem Gesicht. Für alle Existenzen, die eigentlich nicht existieren. Und alle Nicht-Existenzen, die doch existieren. Ich habe sechs Monate im Krankenhaus verbracht, meine Sprache war weg, ich konnte in dieser Zeit mit Mühe Ja sagen und: Grace. Grace ist meine Frau. Und sonderbarerweise konnte ich den Satz formulieren: The possibilities are endless. Ich hab ihn selbst nicht verstanden. Ich habe einfach gar nichts verstanden. Ich konnte das, was ich sah und hörte, nicht prozessieren. Und als ich neu lernte, wer zu meiner Welt gehört und wer nicht, war ich überrascht, wie früh die Grenze kam. Seitdem versuche ich, mich immer für das zu entscheiden, was unentscheidbar ist. Wo sich alles, was zu meinem Handeln gehört, versammelt, ohne daß sich das Handeln gleich realisiert. Was bleibt? Eine Geschichte, die immer anfängt, bevor die großen Geschichten anfangen, die der unbroken powers. Nein, ich werde diesmal nicht den Plot von Broken Flowers bei Wikipedia kopieren, hier einfügen und Flowers durch Powers ersetzen oder Towers. Eigentlich wollte ich eine ganze andere Geschichte, wollte eine kleine Geschichte, die kleine Geschichte eines großen Schauspielers, aus einer komplexen Erzählung herauslösen und mit gewissen Strängen politischer Theorie verknüpfen. Zu spät. Da ist schon das ENDE.

Eine Kreiskamera um Bill Murray herum: das Ende von Broken Flowers. Die Geschichte eines alternden Don Juan, der konfrontiert ist damit, daß er einen Sohn hat, von dem er nichts weiß. Und nicht einmal, daß das so ist, weiß er genau. Und was unterscheidet sein Gesicht am Anfang des Films vom Gesicht am Ende? Nichts. Nur ein Pflaster über dem linken Auge. Und die Ahnung davon, außerhalb einer Geschichte zu stehen. Zwischen dem, was vor ihm abläuft und dem, was in seinem Gesicht abläuft: ein Abstand. Ohne daß die Story unterbrochen würde, findet sich hier die Unterbrechung, mitten im Herzen des Films. Etwas, das die Verteilung der Orte verändern kann, indem es inszeniert, das inszeniert, was dort überhaupt nicht hingehört, ein Stadium VOR der Sichtbarkeit, vor der Szene, off-scene. Dich der Geschichte, die du dir über dich erzählst, entziehen. Die ist losgegangen ohne mich und geht auch zuende, von allein. Und was sie dir läßt, ist ein blutig geschlagenes linkes Auge.

Wo sich alles Blut staut. Wo sich die ganze Geschichte staut. Wo sich alle unsere Blicke, die wir auf ihn auf der Leinwand warfen, versammeln. »[E]ine Gemeinschaft von punktuellen und lokalen Unterbrechungen und Brüchen« [Jacques Rancière], und obwohl wir Angst haben, abgebrochen zu werden wissen wir: Wir sind nur in dem Moment, indem wir abgebrochen werden, überhaupt da, momentlang. Schönheit, die ihren Aufstieg abgebrochen hat und schwebt, bevor sie fällt. Die Unterbrechung als Poesie. If you could be anywhere in the world, where would you like to be? Ich mochte das einfach. Da zu sein, wo dich niemand versteht, also, die Worte. Oder auch, daß niemand dich erkennt, so daß du einfach die totale Freiheit hast, dich irgendwie zu benehmen und Impulsen nachzugehen, die du sonst nicht, ja, die du. Ich weiß nicht, ob ich verloren war. Verlieren als Finden. Ich hatte einen Traum. Und das Gespräch, das wir hier führen, war da sachlicher und leidenschaftlicher und besser, in diesem Traum.

Tun Sie mir einen Gefallen! Ich brauche jemanden, der mir einen richtig guten Schlag ins Gesicht gibt. Wieso? Weil ich, selbst wenn ich weiß, wie unerreichbar diese Geschichten sind, die mich die ganze Zeit anrufen, in den Bildern, dennoch immer versuchen werde, sie zu erreichen. Meine Lippen: reglos, flüstern können sie nicht mehr, nicht mal so, daß wenigstens Sofia Coppola weiß, was. Nur trauern können sie, darüber, daß wir keine gemeinsame Gegenwart haben, keine. Das einzige, was ich will, wenn ich gehe, mit diesem Gesicht, lange eingeübt, jetzt gehe, das einzige, woran ich denken will, ist, daß dieses Gesicht einfach niemanden ausschließt. Das Gesicht von Bill Murray, das schließt mich nie aus, im Lichtspielhaus. Das Gesicht von Bill Murray als Nichtspielhaus, eine verwinkelte Architektur, in der es kein Charakter, von Scriptwritern geschaffen, schafft, mir vorzuspielen, wer er ist. So verwinkelt, dieses Haus, daß ich nicht mehr weiß, wo ich bin, in welchem Raum, und welche Sanktionen mich dazu zwingen, das zu sein, was ich bin, angeblich, die ganzen äußeren Werte, die ganzen inneren Werte, und mehr darf ich dann nicht mehr sein. Wir können alles sein,

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

aber nicht überall. Und niemand glaubt das. Ich sags dir, es gibt diese Geschichten, aber niemand glaubt das. Eine ganze Reihe von Leuten hat das erzählt, daß sie ahnungslos waren, in den Straßen von Manhattan, als sie Finger spürten, zwei Hände, die sich über die Augen legten, und natürlich, natürlich denkst du, trotz der ganzen Aufwertung, ja, Rettung dieser Stadt durch Giuliani, an Messer, Überfall, Tod, oder du hoffst, der Kapitalismus steht hinter dir, um dich zu überraschen, mit seinem Antlitz, ein Moment höchsten Glücks, der dich das Leben kostet, oder? Nein. Neinnein, jemand, jemand großes, genau hinter dir, beugt sich hinunter, zu deinem Ohr, um zu flüstern: Guess who. Und als sie sich umdrehten, die Menschen, und die Hände den Blick wieder freigaben auf die Straßen, die Schatten und das Sonnenlicht, ward es einfach Bill Murray. Mit einem leichten, sehr leichten Lächeln, und den schönsten Worten, die es geben kann, hier, wo die Realität alles aufgesogen hat: No one will ever believe you. Er ist schon weg. Für immer. Diesen Moment hat es nur gegeben, damit er verschwindet, nur eine Sekunde existiert und ein bißchen danach. Und was denkt dieser Moment nun von sich? Daß er poetisch ist? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er war weg, bevor er noch richtig da war. Und ist noch immer da. Ja. Nicht nur er hat es satt, vorzugeben, jemand zu sein, der er ist. Ja, DER ER IST. Ich hab mich immer nur für mich interessiert. Für das, was ich nur durch die bin, die mich umgeben, und durch die, die sehr weit weg sind und mich nicht umgeben, mit deren Leben ich aber dennoch verbunden bin. Nur das hab ich versucht, zu verstehen. Aber in dieser aufpolierten Glamour-Politik-Welt will das kein Schwein sehen.

 

 

Hallo?

 

 

 

Hallo!

 

HALLO?!

 

 

 

 

Ah, ich dachte grad. Ich komm manchmal aus Versehen auf die Stummtaste, und dann hört mich keiner mehr.