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There ain’t a woman in this world,
Not a woman or a little girl,
That can’t deliver love
In a man’s world.
Neneh Cherry
Lucille. Neulich, im Rationalkonvent: Alle waren versammelt, um dabei zu sein, bei diesem großen Schritt, dem ultimativen Schnitt, der die Umwälzung vollenden würde, die in uns stattgefunden hat, seit fünfzig Jahren und mehr: die Auflösung der Arbeit. Und alle applaudierten. Und jubelten. Trampelten. Und fragten sich heimlich, jeder für sich: Muß ich nicht doch Angst haben, vor dem was noch kommt?
Marion. Vor was?
Lucille. Seit heute sind Tag und Nacht abgeschafft. Es wird immer hell sein, wird keine Nacht mehr geben und ohne Nacht auch keinen Tag. Dieses Klein-Klein von Hell-Dunkel mag für die Natur wichtig sein. Für uns Menschen in den Städten nicht. Wir können selbst entscheiden, wann wir wachen und arbeiten wollen. Nämlich immer.
Julie. Ich hätte nie die Revolutionen studieren sollen. Denn sie schlugen alle fehl. Die einzigen, die es immer wieder geschafft haben, das durchzuziehen, waren die technologischen Revolutionäre. Der Ackerbau in der Neolithischen Revolution, die Dampfmaschine in der Industriellen Revolution, das Netz in der Digitalen Revolution. Wobei die letztlich nur vollendet, was sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs angebahnt hat:
Marion. Die Leute haben keine Sonn- und Werktage, sie arbeiten, auch wenn sie wohnen oder Freizeit haben, sogar im Bett und bei jedem Kuß, vierundzwanzig Stunden am Tag, und beten in der fünfundzwanzigsten Stunde, sind immer gerührt, denken immer nach.
Lucille. Ei Kleine, du hast ja geschmeidige Lippen bekommen.
Marion. Ach ja, man vervollkommnet sich täglich. Vor allem beim Reden.
Lucille. Ich liebe es, zu reden. Besprechungstische, die so stehen, daß Besprechungen in Sekunden einberufen werden können. Intime Arbeitsverhältnisse. Alles um uns herum ist ganz nah
Marion. und in dieser Nähe unendlich weit weg. Wir sind nicht mehr für die Produktion da,
Lucille. sondern für das Produkt. Und damit revolutioniert sich die Arbeit automatisch,
Julie. weil sie zwischen allen Orten und allen Menschen stattfinden kann. Und das, was vorher männlich war, das Harte, Industrielle,
Marion. wird weiblich. Früher waren es unsere Hände, die in den Fabriken machten, oder unsere Schenkel, wenn sie Einlaß gewährten.
Lucille. Heute sagen wir vor allem noch, was wir machen könnten und wem Einlaß gewähren. Die Arbeit ist WEICH geworden. In diesem Bürgerkrieg, der sich das 21. Jahrhundert nennt. Und auf einmal bin ich nicht mehr bourgeois,
Marion. sondern nuttig. Oder bourgeois
Julie. UND nuttig. Weil ich, um mich vor dem sozialen Abstieg zu retten, jede Arbeit annehme und ausführe, so willig wie möglich. Wie konnte das kommen? Unsere Augen waren offen, wir sahen den Feind sich rüsten und sich erheben, wir ließen ihn anrücken, jetzt steht er frei und ungedeckt in der Helle des Tages, die immer ist, und die wir sind. Ist das gemeint, wenn sie von der Feminisierung von Arbeit sprechen?
Lucille. Die Arbeit, der Arbeit, das Arbeit. Wieso ist die Arbeit feminisiert worden? Frauen werden immer auf ihren Körper reduziert, aber die Arbeit ist eben nicht mehr an die Körper gebunden, sondern ans Reden. Und obliegt das Reden nicht dem Mann?
Marion. Eigentlich hätte ich mich längst auflösen müssen. Bei jedem neuen Jobangebot hätte ich sagen müssen: Ich bin jetzt mal hier und jetzt mal da und jetzt mal dort. Ich bin die Art von Frau, die für die Ewigkeit gebaut ist. Weil ich weitergehe, ich bin ein Strom. Früher sah mein Gesicht aus wie ein Feigenblatt, das ich vor mich hielt, damit niemand alles an mir sah. Heute ist mein Gesicht ein Buch, von dem das Inhaltsverzeichnis alles verrät. Dabei weine ich die ganze Zeit. Und weiß, nie warum.
Julie. Am Morgen sieht man oft schlanke Frauen in wallender Kleidung über die Grenze der Erschöpfung gehen und am Abend als dicke Tonnen zurückkommen. Unter den Gewändern schmuggeln sie riesige Behälter, in ihnen Tränenflüssigkeit.
Lucille. Ich habe so viel geweint, daß es sogar die Blinden sahen.
Julie. Männer steigen auf ein Podest und sagen: Die Arbeit wird weiblich. Was ist gemeint?
Marion. Daß auch Männer sich auf einmal eine Biographie zusammensammeln müssen, daß auch sie nicht mehr bruchlos ihr Leben durchziehen können, wie es früher vor allem Frauen geschah?
Julie. Oder daß die Arbeit auf Frauen abgeschoben wird, weil die billiger sind? Wenn die harte Fabrik überall ist, warum ist die Arbeit dann angeblich weiblich, weich?
Lucille. Ich will mich auf keinen Fall so unantastbar geben wie manche meiner Kollegen. Aber ich bin es. Vielleicht sollte ich Gefühle und Beziehungen hinten anstellen. GANZ WEIT HINTEN! Ich bin ein Großraumbüro mit mobilen Elementen, das sich immer wieder neu zusammensetzt und so die Menschen in ihm rigide managt. Immer schaffe ich es, genau das zu sein, was ich sein will. Shit. Ich will das nicht mehr. Ich bin so satt. Und am sattesten an revolutionären Sprüchen, die ich ablasse, damit niemand wagt, meine Privilegien anzugreifen.
Julie. Neulich, beim Wohlfahrtsausschluß.
Marion. Deine Lippen sind kalt geworden, deine Worte haben deine Küsse erstickt. Sagte er zu mir. Der Neoliberalismus.
Julie. Geh zu ihm! Geh! Und dann schnell zurück, ich will seine Blicke aus deinen Augen lesen. Und es wird die Leere sein.
Marion. Es ist alles wüst und leer. Nie habe ich mich so allein gefühlt. Obwohl ich nie so viel zu tun hatte mit anderen. Was machst du da?
Julie. Ich leugne deine Existenz. Weil ich zwar auf Zusammenarbeit angewiesen bin, aber gleichzeitig muß ich immer klarmachen, daß ICH der wichtigste Part dabei war. Es ist ein Jammer, daß die Arbeit das zwischen uns, wie Medea ihren Bruder, zerstückelt und alles so in Fragmenten in die Körper gesenkt hat. Gehen wir ins Palais Loyal?
Marion. Unser Mord ist das Leben durch Arbeit. Die gleichen Aufgaben, die gleichen Begegnungen, aber ohne Beteiligung. Deshalb muß ich diese Beteiligung spielen, falls das hier kein Gespräch unter zwei Augen sein soll.
Lucille. Aber es geht eben weiter. Einfach so. Die globalisierte Weltkugel müßte eine Wunde bekommen, jede Sekunde, von diesem Streich. Doch es geht alles weiter wie vorher, obwohl ER verschwunden ist, alles vom Mann aus der Arbeit verschwunden ist.
Marion. Ist es nicht.
Julie. Ich habe heute Nacht im Traum an einen anderen Traum erinnert. Aber ich weiß nicht mehr, an welchen. Ich erinnere mich immer nur im Traum an diesen Traum. Und sobald ich aufwache, ist er weg. Und jetzt, wo die Nacht nicht mehr Nacht ist, werde ich ihn niemals wiedersehen.
Lucille. Bist du auch so erschöpft?
Marion. Ja. Und können wir nicht wenigstens die Erschöpfung teilen?
Julie. Klar.
Lucille. Dann laßt uns einfach hier sein und nichts mehr sagen.
Julie. Aber wie, wie können wir je erfahren, wer wir sind, wenn wir schweigen?
Sei bei mir, überfordere mich nicht, sag nichts, greif nicht in mein Begehren ein, sag etwas, sag nichts, gib mir etwas, gib mir nichts, laß es uns versuchen, laß uns alles versuchen, bitte sei still.
Der Text entstand für das Feature Für immer jung. Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner von Martina Boette-Sonner, Bayerischer Rundfunk 2013, gesendet auf Bayern 2, 17. Oktober 2013.