
Ich spare mir meine Kampfkünste am liebsten für Momente auf, in denen ich sie brauchen kann. Dann solltest du genau diese Künste zusammenrufen, sagt mir eine meiner Kolleginnen vom Institut am Telefon, denn ihr habt ein Doubledate! Und weil die Verbindung so schlecht ist, ja, weil das Smartphone nicht smart genug ist, um mir mitteilen zu können, wer da spricht, weiß ich nicht, ob es Virginia Rest ist oder Nastassja Kički, aber diejenige, die da gesprochen hat, frage ich: Wer hat ein Doubledate? Dein Schreibprogramm und du. Mit? Der Literatur und der Zukunft, hier die Anfrage. Ein MANIFEST? Oha, da bin ich mal wieder in meiner Lieblingsrolle gefragt: als Windmaschine.
Von Literatur weiß ich bekanntlich nichts, jedenfalls nichts über Figuren, Plot etceterapeepee. Und von Zukunft? I woas net, i woas net. Ich weiß nix. Außer daß die Zukunft schon von hier aus ganz schön beschädigt aussieht. Trotzdem will ich alles daran setzen, die Leser in die Kunst einzuweihen, durch die eine Literatur entsteht, die heute schon mit der Zukunft verbunden und verbündet ist. Und wäre so eine Kunst nicht auch nach dem heutigen Plane der Welt mit Recht das höchste Project? Meine Mitstreiter vom Institut für Postökonomie und Situation Tragedy sind schon da, um mir unter die Arme zu greifen. Und während meine Ventilatoren noch rotieren und die ersten Entwürfe in die Welt blasen, wird klar, daß dieser Entwurf hier die Ironie nicht verstanden hat, die in der Aufforderung des Herausgebers lag.
– Der hat dich gefragt, ob du ein Manifest schreiben kannst, und du hast es getan?!
– Öhm. Ja.
– FAIL!
Lieber Jan, leider habe ich deine Aufgabe mißverstanden, oder eben nicht genug mißverstanden, und das hier ist das, was dabei rauskam. Leider hatte ich sowieso nur zwei Tage, und die nächsten zwei Jahre bin ich ausgebucht, diese zwei Jahre haben sich in mir eingebucht, ja, ich bin schon so mit Zeit angefüllt, daß ich keine andere Zeit mehr haben werde, um das zu korrigieren. Kann ich dieses Manifest, das eigentlich gar keins sein sollte, irgendwie retten? Vielleicht durch einen Satz, der alles ironisiert? So was wie: Die Literatur soll uns endlich von dieser Verzweiflung befreien, die uns überfällt, sobald wir uns verliebt haben und wissen, daß doch wieder alles kaputtgehen wird. Hat das jetzt funktioniert? Ich weiß nicht. Druck es oder druck es nicht. Danke für die Anfrage! Machs gut. Dein Jörg
Project A: Räume schaffen
Daß wir nichts und niemanden anschauen können, ohne daß sich die Bilder, die wir von den Screens aufgenommen/abgenommen haben, dazwischenschieben, ist klar. Können wir uns überhaupt noch von ihnen befreien? Wenn ich eine Männerzeitschrift lese, kann ich das Bild des vital-aktiven Machos, der sich nimmt, was er verdient – natürlich immer die Frau –, lächerlich finden, und DENNOCH ist es da, hat sich mit dem verbunden, was ich Körper nenne, um sich dort in meinen Gesten zu reproduzieren, selbst wenn ich gerade mit diesen Gesten dem Bild widersprechen will. Da das Bild aber so eine körperliche Dimension gewinnt, ergibt sich dadurch die Chance, es anders zu betrachten: im Raum angeordnet, in Bezug zu anderen Bildern. Zum Beispiel: in den Städten. Ich weiß, urbane Schauplätze nerven. Aber vielleicht einfach, weil die Stadt in der Literatur oft nur Hintergrund bleibt, obwohl die spezifische Qualität der einzelnen Räume in unserem Alltag doch ganz entscheidend mitprägt, was möglich ist und was nicht, mit wem wir zusammentreffen und mit wem nicht, wen wir begehren können und wen nicht. Es könnte mehr um die Geschichten dieser Räume gehen und – davon ausgehend – um die Geschichten der Menschen und Dinge in ihnen als andersrum. Um diese Qualität aber wenigstens andeuten zu können, muß der Text sich selbst als Raum begreifen, in dem die Dinge, Menschen, Stimmen sich versammeln. Und ich glaube, man kann von den Städten lernen. Vielleicht nicht von den Monstern der Urbanität, zu denen sie sich gerade verwandeln, mit jeder Shopping Mall, jeder Philharmonie und jedem synthetischen See mehr. Aber von den städtischen Strukturen, die es seit Ende der 1960er gegeben hat, in denen der Widerstreit, die Lust an der Auseinandersetzung zwischen Vielen, damit aber auch überhaupt ein Aufeinandertreffen, möglich waren. Und gewollt. Immer mehr werden Minoritäten jetzt wieder ins Private verwiesen, durch die Haltung einer Bürgerschaft, die im öffentlichen Raum nur noch duldet, was sie in ihren eigenen Salons und Schlafzimmern duldet. Gegen diesen geglätteten Raum, der jegliche Raumqualitäten einbüßt, könnte/sollte/müßte die Literatur selbst Räume bieten. Es wäre ja ein Anfang, einfach die Räume, wie sie SIND, beschreiben zu wollen. Daß das nicht 1:1 geht, ist klar, aber sofort würde man auf etwas Komplexeres kommen, als wenn man es nicht versucht, und sofort wären auch die drin, deren Existenz nicht nur Glamourgesellschaft und Eiszeitpolitik à la Merkel am liebsten vergessen würden, sondern auch ein großes Segment der Literatur, das aus der Mittelschicht auf die Mittelschicht schaut, ohne das zu reflektieren/kontextuieren.
Räume aber auch dort schaffen, wo die Texte gelesen werden. Nicht die Wohnzimmer, S- oder U-Bahnen oder Imbißstuben, in denen jemand leise liest, sondern die Räume, in denen Literatur vorgetragen wird. Jede Lesung ist ein öffentlicher Akt, und da das Öffentliche seine Funktion verändert hat,1muß es zwangsweise auch etwas anderes heißen, vor Publikum zu lesen. Wahrscheinlich hat es durch die Jahrhunderte immer wieder was anderes bedeutet, war immer wieder anders inszeniert. Doch das Wieder-/Verschwinden des Öffentlichen, dieses Phantoms, hat in den vergangenen zehn Jahren zu einem seltsamen Paradoxon geführt: Alle sprechen über Inszenierungen im Alltag, an jeder Ecke werden Tips und Tricks verraten, wie man sich BESSER inszenieren kann. Bis am Ende alle gleich inszeniert sind. Und diese Inszenierungen wiederum werden als authentisch gelesen, werden – gerade weil sie hochgradig künstlich sind – naturalisiert. Die Lesung als Moment des Öffentlichen kann einen Raum öffnen, in dem – auch nur mit kleinsten Gesten – derjenige, der da sitzt, steht, liest, schreit, schweigt, nicht mehr derjenige ist, der er privat ist, sondern eben eine öffentliche, ganz andere Person, klar getrennt von sich. Eine andere Person, die sich den Zuhörern nicht nur mitteilen, sondern sich selbst mit ihnen teilen will. Jemand, der nur für diese Momente existiert, der absolut unauthentisch und nicht naturalisierbar ist. Und der deshalb alle möglichen Stimmen in sich versammeln kann und sie – an verschiedenen Stellen im Raum vielleicht – wiedergibt, ohne sie zu repräsentieren, ohne sie repräsentieren zu können, ohne zu denken, das wäre möglich oder nötig. Das ist doch das Schmerzhafteste und Erleichterndste, was wir von den Städten, den urbanen Räumen, lernen können: Niemand kann alles sein. Und vor allem nicht überall.
Project B: Geschlechter herstellen
Neulich im Triebhaus: Ein Körper kam auf mich zu, der perfekt war. Seine Anatomie, seine Schminke, seine Kleidung, seine sparsamen kleinen Gesten, die allen bedeuteten, auf Abstand zu bleiben, so daß ich mich beherrschen mußte. Beherrschen, nicht hinzustürmen und einen Spiegel unter die nicht zu kleine/nicht zu große Nase zu halten und zu testen, ob dieser Körper überhaupt atmet. Aber es war kein Cyborg. Und als ich genauer hinschaute, erkannte ich meine Schulfreundin Plutonia, die immer ein Moppelchen mit zu großer Nase und Hippieklamotten und einer unbändigen Kommunikationslust und Kennenlernsucht gewesen war. Und jetzt? Erstarrt in perfection. Das, ruft Virginia, ist jetzt der Höhepunkt, der Höhepunkt dieser Ökonomie, die alles einsparen will! Ab jetzt gehts woanders hin. Schön wärs. Dieses Beispiel eines Körpers, der jeglicher Neigungen beraubt ist, der jegliche Anziehung schon vorhergesehen und vorher ausgeschlossen hat, begegnete mir ausgerechnet im Triebhaus, dort, wo mir alle möglichen Körper- und Geschlechterformen begegnen sollten. Virginia, deren Namen nichts mit der Autorin von Orlando zu tun hat, und die dennoch oder deshalb genau diesen Roman als ihren liebsten auserkoren hat, verweist sofort auf Judith Jack Halberstams Thesen über das Monströse des uneindeutigen Geschlechts. Und das, sage ich zu ihr, wäre ein weiterer, sehr konkreter und sehr wichtiger Schauplatz für die Literatur einer Zu-Zu-Zukunft: the gendered body! Bis auf wenige Ausnahmen ignoriert die Literatur ja beharrlich, daß es außerhalb des heteronormativen Rahmens Existenzen und Beziehungen gibt. Schwule, Lesben, Transmänner und -frauen, Drag Kings oder Drag Queens tauchen – wenn überhaupt – als Witzfiguren auf oder, schlimmer noch, als Problem, auf das man wohlwollend zeigt und sagt: Auch das sind Menschen, selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht so erscheinen! Anstatt sie einfach auftreten zu lassen als Figuren neben anderen, werden selbst die literarischen Pendants immer als Andere markiert. Und das einzige, was von diesen Leben übrigbleibt, ist Trauer. Das, was den ganzen Körper ergreift und sich vielleicht nie in einer Geschichte ausdrücken läßt, die Frage aller Fragen: TO BELONG OR NOT TO BELONG? Die Trauer darüber, daß man nie so sein kann, wie man sein soll, aber auch nicht, wie man sein will. Statt Trauer wünsche ich mir: Feier. Eine Feier der anderen Geschlechtlichkeiten, indem Figuren auftauchen und einen Teil der Gesellschaft in einem Text ausmachen. Zum Beispiel jemand wie Excel Rose, als Eugenia Szwedko geboren, Tochter polnischer Migranten, die schon, seit sie denken kann, weiß, daß sie in einen männlichen Körper gehört, und die sich Schritt für Schritt dorthin bewegt, auch wenn das für sie Streit mit der Familie und der polnischen Community heißt, schlecht bezahlte Jobs, womöglich auch schlecht bezahlte Sexarbeit. Und dennoch könnte für Excel Rose gerade in einem Text genug Platz sein, um all das – all diese Widersprüche, Hinter- und Vordergründe, die sich überlagern – zusammenzudrängen und entweder zur Explosion zu bringen oder auszuhalten oder nur im Vorbeigehen zu erzählen, als Teil einer ganz anderen Geschichte. So eine Zeichnung abseits von Differenzmarkierung, eine, die sich auf die komplexen Zusammenhänge eines Lebens einläßt und daran Freude hat, das endlich zeigen zu können, wäre eine Feier des Geschlechts. Ja, genau, ruft Virginia, genau genau! Geschlechter eben nicht nur darstellen, sondern herstellen. Den vielfachen Neigungen eines Körpers mit den Mitteln von Sprache folgen, statt nur seine EIGENSCHAFTEN zu skizzieren. Ich habe keine Eigenschaften, sang auch schon Dirk von Lowtzow, damals, 2013. Es geht nicht darum, was du bist, sage ich zu Virginia, sondern wie du das, was du bist, oder von dem andere denken, daß du es bist, überhaupt sein kannst. Nicht alles ist konstruiert, oder doch, aber da die Konstruktionsarbeiten eben über Jahrtausende stattgefunden haben, ist die Frage eher: Wie damit umgehen, wenn ich keine echte Frau bin, aber daß ich dennoch, auf eine andere Art, Frau BIN? Und das, was hier für Geschlecht skizziert ist, gilt genauso für Migrationsbackground, für verschiedene Religionen, für Behinderung. Wär das die Aufgabe? Dem entgegenzuwirken, daß die Literatur ein weiteres Mittel ist, mit dem die westliche Welt verhindert, daß Gemeinschaften entstehen, die NICHT auf Identitäten basieren? Aber worauf dann? Auf etwas, daß man so nennen könnte: gemeinsam da sein. Und wenn es NUR in einem Roman ist. Sonst bleibt alles beim alten, sogar beim sehr, sehr alten. Und die Perversen sind wieder allein mit ihren Perversionen, die doch das letzte sind, was diesen Dornröschenschlaf, den das 21. Jahrhundert über die Welt verhängt hat, auflösen kann, diese Welt, die nie allen gehören wird.
– Doch, wird sie.
– Nö.
– Dann halt nicht! THANK YOU FOR NOT SHARING!
Project C: Geschichten austricksen
Jede Geschichte kämpft, indem sie erzählt wird, gegen die eigene Unmöglichkeit, sie kämpft dagegen, daß zu allem, was in ihr vorkommt, noch Abermillionen Querverbindungen existieren, andere Geschichten anderer Menschen, die ins Zentrum der Geschichte schießen könnten, um ihre Souveränität zu zerstören, das, worum der dadurch beschämte Autor so bemüht war. Das LIEBE ich! Sagt Dario Damiano. Dario forscht im Rahmen der Arbeit unseres Instituts mit mir zusammen an der Ideologie, die aus dem 19. Jahrhundert kommt, das 20. Jahrhundert locker überlebt hat und nun das 21. Jahrhundert mehr als alle anderen zuvor beherrscht. Es ist die Ideologie der Geschichten, die dich anschaut wie ein Unternehmensberater, der sich schon in Stimmlage und Atemrhythmus an dich angeglichen hat, damit du seinen Rat annimmst, und der dir sagt: Du brauchst unbedingt EINE Geschichte. Das Imperium der einen, der erzählbaren, straight story breitet sich immer mehr aus, über die Kanäle, die der Neoliberalismus der Gesellschaft abgenommen hat, die sich selbst immer mehr zurückzieht, weil ihr inzwischen alles zu asozial ist. Vor allem der Imperativ des Imperiums: ICH WEISS, DASS DU KEINE EINHEITLICHE GESCHICHTE HABEN KANNST, ABER DU MUSST SIE TROTZDEM ERZÄHLEN KÖNNEN, DU KLEINES MISTSTÜCK! Und alles an dieser Geschichte wird größer sein als du und deine Realität! Aber die Realität ist doch mehr als genug, ruft Dario Damiano, sein Laserschwert zückend, im 3D-Video-Kampf gegen die imperiale Vorhut. Die Fiktionen verfolgen, anstatt von ihnen verfolgt zu werden, könnte man es so sagen?, fragt Virginia: Die Fiktionen verfolgen, anstatt ihnen zu folgen? Es gibt mehr als genug Gründe, Geschichten nicht eindeutig, 1:1 zu erzählen. Und das ist nur mein wichtigster: Daß die Geschichten viel zu oft als Tatsachen inszeniert werden, und am Ende haben alle vergessen, daß es Geschichten sind, und alle glauben, daß das reale Leben so ist: unerreichbar. Das sind sie, sagt Nastassja, die ganzen Geschichten, die sich nie erfüllen, und die ich nur deshalb so liebe, weil ich ihnen hinterherjage und sie nie in mein Leben lassen muß, zum Beispiel die Geschichte einer Liebe, die mir mehr gibt, als ich nehmen kann. Nein, es geht nicht darum, NICHT zu erzählen. Aber möglichst mit einer Ahnung davon, wie komplex alles ist, und vor allem, was für ein Vorgang das ist, wenn wir etwas Komplexes in etwas Einfaches verwandeln, in etwas Einfaches UND ganzes. Das wahrnehmbar zu machen, gehörte schon immer zu großer Literatur. Manchmal eben durch ganz kleine Geschichten, die sich nicht aufblähen, um größer zu sein als die, denen sie zugeschrieben werden. Halt die Fresse, du sollst EINFACH ERZÄHLEN, ruft mir jemand aus dem Off zu, los, mach schon! Aber Leichtigkeit muß man sich eben erarbeiten, und das kann schon mal sechzig, siebzig Jahre dauern. Ein achtzigjähriger Russe, der mir in einem Kleinbus gegenübersitzt und mit strahlenden Augen, lachend, mit den Händen Figuren, Daten, Geschehnisse in den Raum malend, seine Geschichte erzählt, in der alles vorkommt, vom Konzentrationslager und den toten Kindern mit ihren roten Schuhen über die Haft in einem KGB-Gefängnis bis hin zur simulierten Geisteskrankheit, die ihn schließlich zum Schriftsteller werden ließ. Und das in dreißig Minuten! Man braucht nicht unbedingt zweitausend Seiten. Man braucht vielleicht die kleinen Gesten, das Leuchten der Augen und ihr Zwinkern. Augen, die tricksen. Die sagen: Es könnte so gewesen sein, aber vielleicht irre ich mich auch oder will mich irren, und es war anders, aber jetzt gerade will ich das so erzählen. Und natürlich braucht es dafür eine Entfernung. Nicht um andere auf Distanz zu halten, sondern um gerade MIT anderen zu sein, mit denen, die die Texte dann lesen, um zusammen auf eine andere Weise da zu sein als die, die wir von den fertigen und immer wieder und wieder erzählten Geschichten kennen. Und für diese Distanz und für dieses Gemeinsam-da-Sein und für diese Gesten braucht es auch eine Sprache, die sich nicht an die Geschichten klammert, die man in drei Sätzen zusammenfassen kann, jene winzigen, unvergeßlichen Unglücke, die in uns sitzen, die sich als erreichbar tarnen, obwohl sie es gar nicht sind. Ich kann einfach nicht mehr an diese Unerreichbaren glauben, seit diesem einen Tag, an dem ein Freund von mir sich das Leben nahm. Bitte nicht wieder pathetisch werden, ja?! Mach ich ja gar nicht.
Project D: Betrieb austreiben
– Komm rein, ich habe das Haus selbst gebaut. Mit meinen Belegexemplaren.
– Shit, SO VIEL hast du verkauft?
– Es war ein Book on Demand.
– Oh.
Seit mindestens fünfzehn Jahren hat das Betriebliche sich in die Literatur auf eine Weise eingemischt, als wäre es eine Kolonialmacht, die ein unzivilisiertes Volk besetzen, zur Ordnung rufen und ihm seine Lebensform überstülpen muß. Und viele AUTOREN haben sich nicht nur über diese Kolonisation gefreut. Nicht wenige sind nur AUTOREN geworden, weil sie sich in Kollaboration mit dem Kolonialherren aufbauen konnten: Jetzt bin ich AUTOR, auch wenn ich nur einen Prosatext von zehn Seiten maximal geschrieben habe, der eine Kopie hunderter ähnlicher Texte ist, doch eine Jury hat das als preiswürdig erachtet und mich zum AUTOR gekürt. Der Betrieb hat dafür gesorgt, daß Marketingmaßnahmen wie Neues Erzählen, Fräuleinwunder oder Popliteratur für literarische Strömungen gehalten werden. Die Hölle des Performativen: Wenn das, was progressiv daherkommt, nichts anderes ist als eine Einfrierung, eine Stillstellung, die der Literatur jegliche Kraft nimmt, die sie haben könnte. Ich brauche ja gar nicht mehr auf mein eigenes Erleben zurückgreifen oder auf das Chaos der Stimmen in mir. Der Betrieb hat mir eine Bresche durch die Stimmen geschlagen, die ich höre. DANKE! Und dann ging es weiter. Zum Beispiel mit Anweisungen, getarnt als gut gemeinte Ratschläge: Du mußt dich jetzt ranhalten und n Buch mit Erzählungen raushauen, danach den Lyrikband und dann den Debütroman, und denk daran: ein Titel hat im Buchladen drei Sekunden! Diese und andere Formen von Ratlosigkeit, die bei einer Karriere helfen sollen und nur dabei helfen, die Tragödie zu verwalten. Die Tragödie, in der wir auf immer mehr verzichten, auch und gerade dort, wo es nicht sein muß: In der Literatur können wir ALLES machen! Wir können auf fünf Seiten dreitausend Figuren vorkommen lassen oder auf dreitausend Seiten fünf. Wir können in jedem Satz eine neue Geschichte erzählen oder eine einzige Geschichte in jedem Satz neu zu fassen versuchen. Wir können alle auftreten lassen, die es da draußen auch gibt, und auch die, die es nicht gibt, oder die wir gar nicht wahrnehmen können, obwohl sie da sind. Wir können die Grammatik umdenken, können ihr sklavisch folgen, können die Grammatik in die Richtung lenken, in die non-native speaker sie lenken, ohne es zu wollen. Wir können all das, weil nichts davon kostet – nur die Zeit, in der der Text entsteht, nur die Kosten für den Raum, in dem er entsteht, die Heizung, der Strom. Im Vergleich zu Theater, zu Film, zu Bildender Kunst ist das eine lächerliche Summe, mit der man nicht genauso viel machen kann, sondern viel mehr. Und wieso dann überschaubares und überschaubar psychologisches Personal, sogenannte klare Sätze, von denen jeder schon am Anfang weiß, wohin sie wollen, geradlinige Geschichten, die – selbst wenn sie zwischendurch Umwege nehmen, vorhersehbar sind – erst an ihr Ende kommen, wenn der Leser gedanklich schon längst dort angekommen ist? Ja, es kann interessant sein zu wissen, daß irgendetwas unter dem schwelt, was wir wahrnehmen. Doch bei vielen vielen vielen neuen Texten immer wieder das Gefühl, daß irgendwas schwelen soll, von dem NIEMAND weiß, was. Und das Geheimnis einer Abwesenheit ist nichts anderes als die Abwesenheit jeden Geheimnisses. Selbst ein Teenager, der täglich für die Handykamera posiert, und das mit dem gleichen Ausdruck, auch wenn die Kleidung oder der Hintergrund wechseln, die Haare mal länger oder kürzer sind und die Hautzellen sehr schleichend älter werden, selbst dieser Teenager merkt irgendwann: Mein Fotogesicht ist zu meinem Gesicht geworden. Doch der Literaturbetrieb merkt das nicht. Literatur wird betrieben, sie wird – was ihr endgültiger Tod ist – sogar GELEBT: Man schreibt, um an einer Schule aufgenommen zu werden. Man durchläuft die Schule. Man gewinnt einen Wettbewerb. Man bekommt einen Agenten. Man veröffentlicht und bekommt ein Stipendium. Man geht auf Lesungen, um gesehen zu werden. Man hofft auf gute Rezensionen. Man betreibt Literarurbetriebswirtschaft. Man lebt die Literatur, anstatt FÜR sie zu leben. Und für Literatur leben könnte zunächst mal heißen: schreiben, ohne den Markt zu meinen. Ich höre schon wieder die Lektoren, Schreibschulleiter und Feuilleton-Asis rufen: Denk doch an den DURCHSCHNITTLICHEN Leser! Als Antwort darauf habe ich diesen kleinen Demonstrationszug aus alphabetisierten Kaninchen vorbereitet, die folgendes Schild hochhalten: Tötet den imaginären Leser! Keine Angst, es wird niemanden treffen, da dieser Leser schon immer tot war, auch immer eine Abwesenheit markiert hat: die Abwesenheit des Denkens, die im Literaturbetrieb mehr und mehr Einzug gehalten hat. Aber daß weder Klappentexte noch Schreibseminarübungen noch Rezensionen eine Denkbewegung vollziehen, sondern Vokabeln abrufen, heißt ja nicht, daß ein Leser nicht mehr denken kann. Das größte Ziel der imperialen Bewegung: ein Nicht-Denken, das vor allem in die seltsam leeren Zeilen der Kritik Einzug gehalten hat und dort auch noch stolz präsentiert wird, einem Pfadfinderorden gleich. Das Gegenteil wäre also ein Ziel für die Zukunft: Literatur wieder als Form des Denkens anzusehen, anstatt mit den Augen zu rollen und zu stöhnen: Lesen ist anstrengend genug, da will ich nicht auch noch denken müssen! Oder: schon das Inhaltsverzeichnis deiner Bücher ist mir zu schwierig! Aber die Dinge müssen eben gedacht werden, wieder und wieder, gerade weil sie sich so schnell verändern. Oder wie das französische Literaturkollektiv der Zukunft Tiqqun sagt: Wir müssen unser Leben denken, um es in dramatischer Weise zu intensivieren. Nicht so viel Drama, ermahnt Nastassja Kički mich per Mail und zuckt dann die Achseln per Smiley. Entschuldige, das ist ein Reflex, der mir auf den Datingportalen antrainiert wurde, ich meinte das Gegenteil, ich meinte: BITTE, laßt uns endlich das große Drama haben, das große Denken! Das Denken als Drama? Und Drama als Denken, das unser Leben als die dauernde und vergängliche Illusion zeigt, die es ist. Aber ich habe doch beschlossen, ein ERFOLGREICHER Autor zu sein, sage ich, der im ominösen Auftrag des Geldes schreibt, um noch mehr aus dem Leim zu gehen. Und damit dem Geld auf dem Leim zu gehen, schreibt Nastassja, klappt ihr Laptop zu, öffnet ihr Herz, geht raus in die Straßen, auf ein Haus zu, auf eine Wohnungstür zu, auf einen Jungen zu, dem sie geben wird, was sie gar nicht hat.
entstanden für und mit Fußnoten noch unübersichtlicher in: Neue Rundschau 1 (2014), Schwerpunkt: Manifeste für eine Literatur der Zukunft, kuratiert von Jan Brandt.