
Inside/Ausdehnung
Meine Fresse, du warst ja sofort dran, hattest du das Telefon im Gesicht, oder was? Seit Monaten? Wieso? Auf was hast du denn gewartet? Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, da muß dir doch aufgegangen sein, daß es irgendwann auch mal zuende ist. Ich hab diese ganzen Videos von dir ja nicht gemacht, um mich an dich zu erinnern. Wenn ich die anschaue, weiß ich, wer du mal warst, für mich. Und jetzt kann ich dich vergessen. Wieso sagst du nix mehr? Schau mal, es ist doch so: Wir sind Städte, ja? Wir sind hochverdichtet und übervoll, viel zu viele Bewohner, die alle irgendwas wollen, und irgendwie will niemand dasselbe. Und bei den Städten, in denen man leben will, kommt da am Ende irgendwas raus, was gut ist und angenehm und n bißchen luftig. Und wir dachten eben kurz, wir könnten so eine Stadt sein, dachten, wir könnten überhaupt EINE Stadt sein, aber das war nicht drin. Ich bin aufgestiegen und habe dich zurückgelassen, ja, du hast es leider nicht in die Riege der first cities geschafft, nicht mal die der second cities, third cities. Du bist Chemnitz, wo jedes zweite Haus leersteht, dazwischen die übersanierten Altbauten, die sich anstrengen können, wie sie wollen, selbst sie werden nicht mehr bewohnbar sein. Du bist Duisburg, wo gerade ein ganzes Viertel abgerissen wird, abgetragen, bis nichts mehr übrig ist, nur noch Pflanzen, ja, du bist Duisburg-Bruckhausen, Bruchhausen, das in voller Blüte stehen könnte, wenn denn endlich mal wieder Menschen in diese abgewrackte Industriehalde kämen, die das ganze Ruhrgebiet ist, vor allem du! Du bist Marseille, wo Jugendliche Drogendealer werden wollen, weil alles andere niemals zu realisieren wär. Du bist Detroit, und jeder Versuch, deinen Niedergang in etwas Positives umzuwerten, seit Jahrzehnten, ist wie die Stelle in einer Sitcom, wo der selten dämliche Typ mal einen schlauen Moment hat, aber nur, um danach noch viel dämlicher zu wirken. Du bist Glasgow, wo Menschen im Durchschnitt mit fünfundfünfzig sterben, weil nichts die Stillegung der Stahl- und Textilanlagen wettmachen kann, und wie Menschen den Tod ihres Partners nicht verwinden, stirbst auch du. Du bist Chongqing, diese Metastadt, wo überall abgerissen und neugebaut wird, ÜBERALL, und bald wirst du merken, daß nichts an deiner gebauten Substanz älter ist als dreißig Jahre, und du wirst innehalten und fragen: Wo bitte ist meine Geschichte hin? Du bist Kaliningrad, eine der Vorzeigemetropolen des Ostblocks, zumindest in den kommunistischen Träumen, und mitten in dir steht das Haus der Räte, das nie zuende gebaut worden ist, und aus dem heute die Fensterscheiben rausfallen, VORSICHT, VON OBEN –! Noch mehr Scherben. Noch mehr geborstene Leitungen. Noch mehr Abrißmasse. Am Anfang wollte ich alles von dir, und das sofort, ich wollte dir sofort so nah wie nur möglich sein, und du mußtest reagieren und hast reagiert und gesagt: Ich will auch, komm mir so nah, wie es nur geht. Und ich hatte verschwiegen, daß irgendwo, ganz kleingedruckt, stand, daß das kein Vertrag für die Ewigkeit war. Du hattest dieses pulsierende, rote Körperteil, das ich dir versprach, nur geleast. Das stand da, kleingedruckt, und noch viel kleiner: Irgendwann werde ich einfach weg sein, von einer Sekunde auf die andere. Ich habs ein paar Monate ausgehalten, und, ja, weißt du, das ist normal bei mir, daß ich dann nicht mehr körperlich angezogen werde, das hat nichts mit dir zu tun, echt nich. Das zwischen uns, was du in den Videos siehst, war eine optische Täuschung. Ein Vexierbild: Von weitem war es Liebe, von nahem ein Geist. Der jetzt geht. Der sich noch das letzte Stück schleicht, bis er die Tür hinter sich zumachen kann, leise, so leise, daß du es nicht hören wirst, aber du wirst wissen, daß die Tür gerade zugeht, und du wirst dasitzen und weinen. Und das ist okay. Wenn es eines gibt, wofür du dich nicht entschuldigt mußt, dann sind es Tränen. Als ich dich gefragt hab, wo du dich in zehn Jahren siehst, hast du mir nichts sagen können, nur diese zwei Worte: Bei dir. Aber ICH muß weiter. Und ich finde es schwierig mit der Distanz. Diese Distanz, unüberbrückbar, zwischen einer Metropole wie mir und einer längst geschrumpften Stadt wie dir. In meinen Armen ist immer kein Platz für dich. Das sage ich, lächelnd. Dieses Lächeln ist eine Festung. Dieselbe Brutalität, mit der ich gegen alles vorgehe, was da irgendwann mal war, in mir. Aber erstmal zu dir: Das hier ist ein Geschenkgutschein für eine komplette kosmetische Gesichtsbehandlung. Vielleicht wirst du ja als Parkplatz glücklich.
Part 1 Part 1[read by Stefan Merki]
Outside/Wüste
Neulich, am Umschlagplatz: Von einer Sekunde auf die andere wußte ich, wir würden umschlagen, hier, auf diesem Platz. Ich wählte deine Nummer und endlich, endlich hörte ich deine Stimme, aber sie sagte, daß du gar nicht mehr weißt, was ich von dir will, und es sei doch klar. Ja. Du hattest es geschafft. Geschafft, dich von mir zu befreien, von einer Liebe, die dich nur noch belastet hat. Wie sollst du auch zur Metropole werden, wenn immer eine niedergegangene Industriestadt vor dir steht und dich umarmt? Und ich schau mir das Video an, es ist nicht mal drei Minuten, in denen wir dastehen und uns umarmen, von dir sieht man nur den Hinterkopf, und ich mag meinen Blick so bei zwei Minuten fünfunddreißig, weil ich da in meinem Blick sehe, wie du mich ansiehst, kurz bevor du dich wegdrehst, zur Webcam hindrehst und fragst: Is das nicht total vergoldete Energie? Und wie. Das sind wir: Zu Städten aufgehäuft und wieder abgetragen. Und ich bleibe abgetragen, und du? Du willst alles. Zum Beispiel ein paar Millionen neue Einwohner. Allein in diesem Haus da sitzen vierhunderttausend Briefkastenfirmen. Bei vierhunderttausendundeins hättest du Angst, daß es langsam eng wird, aber noch gehts. Und man sieht die Anstrengung, glühend rot. Die Anstrengung, alles sein zu wollen. Paß ein bißchen auf dich auf, ja? Mach ich doch! Sagst du prompt. Ich nehme täglich brav meine Eisen- und Stahltabletten, Schätzchen, ich behandle meinen Körper wie einen Tempel, für jedermann geöffnet, Tag und Nacht. Ja. Vor allem für die Arbeit immer und immer und immer immer immer geöffnet! Denn du willst weiter. Alles an dir will noch viel, viel weiter. Bis alles genauso aussieht wie in jeder anderen Stadt. Und du freust dich und merkst nicht, daß du auf das Geld hereinfällst, das selber unglaublich dumm ist. Es kann überall auf der Welt nur das gleiche machen, ohne zu sehen, daß jede Stadt ganz speziell ist. Kannst du nicht einfach wiederkommen? Ich hatte vor, noch Jahrzehnte mit dir zu leben, einfach so, miteinander leben, miteinander dieses Leben zu führen, und natürlich wäre es nicht einfach geworden, und einfacher als bisher vielleicht auch nicht. Jetzt bist du eine Megastadt, in der alles hoch aufragt und glänzt. Du bist das, worauf drei Jahrtausende Warenwirtschaft hingearbeitet haben, ein Warenlager, das sich immer wieder reproduziert. Eine wüstere Landschaft hat niemand, der liebte, je gesehen. Kein Ort in der Welt kann eine so wunderbare Verbindung von Marmor und Unflat, von Größe und Niedrigkeit aufweisen als du. Und in einem gewaltigen Sturm wird das alles niedergehen, vom redlichsten Donner und vom einsilbigsten Blitz werden die Dächer einstürzen, die Straßen platzen, die Türme fallen. VORSICHT, VON OBEN –! Doch es trifft nur mich. Wieder ein paar Häuser, die weggerissen werden, Bausubstanz, die ansonsten nur dasteht und kostet und kostet und kostet. Ich hab so viel gekostet. Und immer nur billig ausgesehen. Fail! Ich hatte vor, dir noch so viel zu sagen, so viel nicht zu sagen, so viel zu zeigen, vielleicht nur über eine kurzes Zucken meines Augenlids, oder indem ich dich, nachdem wir uns schon Stunden gesehen hätten, in diesem Trubel, zwischen Handshakes, Smalltalk und Fotoposen, indem ich dich anschauen würde, um meine Lippen sagen zu lassen: Hallo. Aber du hast einfach beschlossen, zu verschwinden. Und seitdem deine Liebe begonnen hat, sich selbst zu verschieben, – oder vielleicht war sie auch schon immer verschoben, war noch nie Liebe –, seitdem werde auch ich Tag für Tag kleiner, als würden diese ganzen Menschen, die mich mal bewohnt haben, verdammt nochmal abhauen, über Nacht. Schon sind die Film- und Fernsehteams da, um mich als Kulisse zu nutzen für Reportagen über eine Zukunft, die alle erwartet, oder für Kriegsstreifen oder ein paar kleine Manöver, Häuserkämpfe könnte man hier ziemlich gut üben. Wirst du nie wiederkommen? Nicht als Großinvestor? Und auch nicht als sozialistische Planwirtschaft? Ich werde arm und alt und ohne pulsierendes Leben vor dir stehen. Ich bin ja jetzt schon nicht mehr bewohnbar. Ich bin ein Museum. Nur schauen, nicht anfassen, ja? Aber es will eh niemand anfassen. Und wenn ich nicht den ganzen Tag youtube schaue, merke ich sofort, wie erschöpft ich bin. Wir werden beide zugrundegehen, vor Erschöpfung, und die Bilder bleiben, um uns zu trennen, auf ewig. Das einzige, was uns noch verbindet, ist sowieso, daß uns nichts verbindet. Also. Ich weiß nicht, ob du mich noch hörst, aber ich leg jetzt auf.
Part 1 Part 2[read by Annette Paulmann]
entstanden für: Rot. Glas. Raum, Schaustelle Pinakothek der Moderne München, kuratiert von Philip Decker & Teresa Vergho