Die Liebe keines Volkes

Text

 

Mögliche Titel:
Der letzte Sinn
Die einzige Kraft, die einem übrig bleibt
Ehre und Respekt
Model und Krieger
Bewegung und Gewalt
Stimmt es, daß im Kino die Dinge tiefer werden?
Framing death
Eine andere Art von Himmel
We were young, niqabbed and gorgeous
Über den Gewändern tragen sie Waffen
Unter den Gewändern schmuggeln sie Tränenflüssigkeit
Weiter töten, weiter sterben
Theater des Terrors
Du bist verletzbar, ich nicht
Ich bin verletzbar und du nicht
Wir sind verletzbar, und die nicht
Seit diesem Tag habe ich dich nicht mehr zu Gesicht bekommen
Von den Fotos verschwunden
Trauer tragen
Trauer ertragen
Du wirst nie bei mir ankommen
No, no coming home
Eine Frau nach dem Krieg
In deiner Hand
All meine Erzählungen sind am Ende, bevor sie überhaupt –
Keupstraße ist überall
Die Liebe keines Volkes

 

Es gibt Menschen, die immer nur falsche Nachrichten über die Liebe bekommen.

Ohne Vorwarnung donnert die U1 in den Februartag, läßt die Verglasung auf dem Hochgleis erbeben und kreuzt fünfzehn Meter über der U8 die U8. Auf der Zwischenebene des U-Bahnhofs harrt ein Blumenladen aus, der schon lange geschlossen werden soll, doch noch überlebt er. In den Gängen verlaufen sich Touristen, irren umher, als sei alles noch unübersichtlicher, als es ist. Vor dem größten aller Bling-Bling-Casinos versammeln sich die Junkies, und gerade in dieser Sekunde sind sie, ohne es zu merken, zum ersten Mal seit Wochen vollzählig erschienen. Hinter dem Zentrum Kreuzberg, diesem massiven Siebzigerjahre-Betonbau, spielen Kinder Fußball, der Durchgang zwischen Dresdener Straße und Ladenzeile ist ihr einziges Tor. Schräg drüber, im Café Kotti, sitzt eine Gruppe junger Anarchisten, die aus Brasilien, Argentinien, Bolivien, Neuseeland, Kanada, Italien, Griechenland, Island, Rumänien, Rußland, der Ukraine, Österreich und Deutschland stammen. Vor dem Kaiser’s treffen sich junge Partygänger, die aus mindestens ebenso vielen Regionen und Staaten stammen. Im Möbel Olfe treffen sich die Homos, die alle aus einem Land namens Wandschrank stammen. Genau auf der anderen Seite der Hochbahnbrücke, im Südblock, bereitet ein Trio US-amerikanischer Drag Queens ihre Show vor. Daneben, im Gecekondu, der Hütte der Mieterinitiative Kotti & Co., ordnen zwei der Frauen aus dem Protest Aufkleber und Infobroschüren, während im Hintergrund das Wasser für den Tee kocht, während die Heizung auf Hochtouren läuft, während auch die Mietpreise um das Gecekondu herum trotz aller Proteste schon wieder in hitzige Höhen steigen. Und der Winter tut mittels einiger Sonnenstrahlen so, als wäre er am Ende, um sich die letzten Minustemperaturen aufzusparen und uns damit noch einmal ordentlich in die Fresse zu schlagen, bald.

Bald.

Und der Schriftsteller Jörg Albrecht sitzt hier in der Nähe, in einer Bar und tippt in die Tasten. Die Bar heißt Zehntausendundeine Nacht und bietet eine Menge geschmackvoller Requisiten aus der orientalischen Welt: Shishas, Kissenlandschaften, Gewürztee. Es braucht diese Umgebung, es brauchte den Wechsel aus den üblichen Hipstercafés in diese Umgebung, um das Thema zu bearbeiten, das Albrecht zu bearbeiten hat. Wo anders könnte er besser über die Postergirls des Dschihad schreiben als in so einem orientalisierten Raum? Postergirls des Dschihad ist die Formulierung, die ihm Larry Stutzenstein von 21st Century Fox die ganze Zeit um die Ohren knallt, per Telefon, per Kurznachricht, per Twitter. Und 21st Century Fox ist die Filmproduktionsfirma, die unbedingt diesen aktuellen Stoff aufgreifen will, vielleicht sogar in mehreren Episoden, vielleicht sogar von mehreren Regisseuren, jaja, damals, das war noch was mit Deutschland im Herbst, sagt Larry Stutzenstein, wenn er mal von was anderem spricht als von den Dschihad-Postergirls.
Jörg Albrecht tippt in die Tasten, um das Exposé für einen Film fertigzustellen, der den Titel tragen soll: Zwei Mädchen im Krieg, englischer Verleihtitel: Two Girls Go To War. Es tut nichts zur Sache, daß Albrecht die Filmproduktionsfirma mit Listen bombardiert, die andere Titel vorschlagen.
Du sollst ein Exposé schreiben, keine Liste mit Titeln!
Abseits des Titels soll es im Film um zwei Österreicherinnen gehen, die im Frühjahr 2014 über die Türkei nach Syrien gingen, um Staatsbürgerinnen des Islamischen Staates zu werden. Das Exposé muß bis heute Abend fertig sein, aber es weigert sich. Das Exposé weigert sich von Anfang an. Es weigert sich so sehr, daß nicht mal der erste Absatz, das Abstract aus drei Sätzen, fertig ist. Oh my.
Jörg Albrecht versucht, sich wieder in sein Recherchematerial zu vertiefen, da er ihn doch irgendwo finden muß: den Punkt, wo es zündet, wo er weiß, wie er diese Geschichte erzählen kann, wo er berührt wird, im besten Fall. Er liest im Artikel eines österreichischen Nachrichtenportals: Laut einem hochrangigen Experten des Anti-Terror-Komitees des UN-Sicherheitsrates, dem Israeli David Scharia, soll eines der Wiener Syrien-Mädchen ums Leben gekommen sein. Die andere ist verschwunden, sagt Scharia. Scharia. Scharia, Scharia.
Jörg Albrecht weiß nicht, wie er weiterkommen soll. Er muß mit jemandem sprechen, der ein bißchen mehr Gefühl für das ganze hat, für das, was in Syrien passiert. Jörg Albrecht zückt sein Phone und ruft seinen Bekannten Emre Specht an. Der ist gerade in der Wintersonne unterwegs, auch in Kreuzberg 36, und sagt, er könne in fünfzehn Minuten vor Ort sein.

Fünfzehn Minuten später, vor Ort: Emre Specht zückt eine Zigarette, lästert kurz über die Ausstattung der Shishabar, lästert lange über Jörg Albrechts Versuch, sich durch die Ausstattung der Shishabar inspirieren zu lassen, drückt die Zigarette aus, die er nebenbei mit großer Ruhe aufgeraucht hat, aufgebraucht, und sagt: Laß uns zur Vorsicht erstmal den Ort wechseln, ja?
In einem Café, das bald geschlossen werden wird – nicht weil es nicht erfolgreich wäre, sondern weil den Vermietern zufolge der Style der Inneneinrichtung nicht dem Style Berlins im Jahr 2015 entspricht –, fragt Emre Specht dann: Willst du jetzt wissen, was ich in Syrien erlebt habe, oder was genau? Leider weiß Jörg Albrecht keine Antwort, tackert auf dem Druckknopf seines Kugelschreibers herum, legt ihn dann weg und sagt: Ich weiß auch nicht. Emre Specht sagt: Trinken wir erstmal nen Tee.
Also trinken sie Tee, Jörg Albrecht, der Schriftsteller, und Emre Specht, der nach einer abgebrochenen Ausbildung zum Eventkaufmann gerade sein Studium der Islamwissenschaft abgebrochen hat. Und das nur, weil er schon vor Ende des Studiums von lauter Menschen mit Jobangeboten umgarnt wurde. Was für ein Traum! Wobei es ein bißchen darauf ankommt, wer dir wie welche Jobs anbietet, um dich zu umgarnen. Wenn dich auf einmal lauter hypernormale Menschen ansprechen, und erst nach mehreren Minuten, manchmal Stunden verstehst du, daß es ihnen darum geht, daß du halber Türke bist, Islamwissenschaft studierst und unter anderem in Syrien warst. Emre Specht, dem wegen seines exzellent hybriden Erfahrungsschatzes immer wieder von Geheimdiensten angeboten wird, er könne in ihre Dienste treten, in die Dienste der Geheimdienste. Während  Jörg Albrecht übrigens von denselben Geheimdiensten noch immer beschattet wird, weil er im vergangenen Jahr in einem Staat der Arabischen Emirate, ja, was eigentlich? Weil er zu harmlos war. Und das Verdächtigste ist die Harmlosigkeit, sagte damals, als Albrecht in einem Gefängnis des Geheimdienstes verschwunden war, ein Geheimdienstmitarbeiter zu Albrechts Lektor Ahrend und Kollegen Bärfuss.
Emre Specht erzählt Jörg Albrecht im Café, das nicht dem Style Berlins im Jahr 2015 entspricht, von seinen Erlebnissen in Syrien, bevor es dort mit dem Bürgerkrieg losging. Und weil Emre Spechts Paranoia intelligent ist, dauert das eine ganze Weile. Denn diese Paranoia führt von Syrien über die Türkei und Thüringen nach Kreuzberg, führt in die andere Richtung, von der Wiedervereinigung über den NSU und das Problem Erdogan in den Krieg des IS.
Danach läuft Albrecht nach Hause und denkt: Jetzt müßte ich darüber schreiben, über Emres Erlebnisse, über das, was er dort erlebt hat, und über das, was er als Deutscher mit türkischer Mutter hier erlebt hat, und über das, was er vielleicht nur glaubt, erlebt zu haben. A good kind of paranoid. Aber wie paranoid muß ich sein, wenn ich jetzt in das, was ich von ihm weiß, die Erlebnisse zweier junger Frauen hineinprojiziere? Nein, andersrum, wenn ich in ihre Geschichte, aufgemotzt durch Emres Erlebnisse, meine eigene Geschichte hineinlese? You’re so paranoid you probably think this here is about you.

Auf dem Heimweg stoppt Albrecht immer wieder seine Schritte, da er nicht immer gleichzeitig zuhören und laufen kann. Und am Telefon ist nun seine Freundin Silvana, also known as: Transsilvana. Transsilvana, deren Drag-Outfits in letzter Zeit auffällig häufig in die Welt von Tausendundeiner Nacht gehören.
Was ist denn, fragt Transsilvana, die Königin des orientalischen Drags, mit deinem Plan, ein Märchen-Popspektakel aus der ganzen Geschichte zu machen? Dazu fiel mir noch diese arabische Figur ein: der Ifrit, eine Form des Dschinn, der im Klassensystem der spirituellen Wesen unter den Engeln und den Teufeln steht, und der, wenn ich mich recht erinnere, mit blutiger Rache zu tun hat und – wie mir mein smartes Phone just verrät – in seiner eigenen Hierarchie der Könige, Stämme und Clans lebt. Wäre das nicht auch eine schön gebrochene Möglichkeit, die beiden Mädchen zu beschreiben? – Kann der Ifrit denn weiblich sein? – Spielt das eine Rolle? – Zwei MÄDCHEN im Krieg. Diesmal müssen wir auf die gute alte Genderverwirrung verzichten, my dear. – Keine Sorge, sagt Transsilvana, der Ifrit tritt sowohl in männlich als auch in weiblich auf.
Später schickt die unter dem bürgerlichen Namen Vadim geborene Transsilvana Albrecht noch einige Links zum Ifrit, vor allem zu seinen westlichen Adaptionen: im US-amerikanischen Rollenspiel Dungeons & Dragons in den Siebzigern und im japanischen Videospiel Final Fantasy seit den Achtzigern.
Doch bevor Albrecht ihr daraufhin antworten kann, ruft jemand an: Larry Stutzenstein von 21st Century Fox. Der Angerufene beschließt, das Telefon so lange mit anderen Gesprächen zu besetzen, bis dieser Tag vorbei und die Exposéabgabe abgegeben ist, abgegeben an irgendeinen anderen Tag in näherer oder besser fernerer Zukunft.
Daheim, wo er registriert, daß er noch sechs Stunden bis zur Exposéabgabe hat, will Jörg Albrecht noch weitere Freunde anrufen, anschreiben, anflehen: Please help me!

All diese Freunde bemühen sich redlich, ihre jeweilige Expertise einzubringen, um Albrecht zu helfen. Zum Beispiel so:
Oleksandra Shwetz, in Lemberg geboren, aber so gut wie nicht dort aufgewachsen, weil sie mit vier Jahren nach Darmstadt kam, inzwischen Dungeon Master, also Leiterin der Rollenspielgruppe Gay and Lesbian Role Play Nerds, schlägt vor: Ein Kriegerepos! Voll auf die Zwölf! Auf diese ganze Dschihad-Romantik raufsetzen! Es gibt so ein Rollenspiel des IS, also ein Pen & Paper-Propagandaspiel. Wir haben versucht, das zu bekommen, aber es ließ sich nicht ohne größere illegale Tricks beschaffen, so daß wir jetzt bei dem Spiel gelandet sind, auf dem das Dschihad-Spiel basiert, ja, das es quasi komplett kopiert: ein germanisches Wargame. Ein Rollenspiel mit germanischen Kriegern. Wobei wir in unserer Gruppe ja eher germanistische Krieger sind.
Und auch Brian Storm, in Omaha, Nebraska geboren, über Austin, Texas und New York City nach Berlin gekommen, um hier mit seinen aggresiven Blackfacing-Performances berühmt zu werden, ruft: Du mußt so ein Fantasy-Epos daraus machen, mit verschiedenen Völkern und Ländern. Game Of Thrones, ganz klar. Nichts trifft doch die Welt nach 9/11 besser als Game Of Thrones: der Krieg mit allen Mitteln, der Verrat, die Folter, die Drohnen oder Drachen, die Untoten, die Schwerter der Frauen, der leere und dadurch erst so machtvolle Thron.
Bin Yenh Prettlbaur, in Ho Chi Minh City geboren, Anfang der Achtziger von einem Lehrer-Ehepaar aus Linz adoptiert, später in Wien zum Enfant Terrible der Modeszene geworden, fragt: Ist das ganze nicht ein Melodram? Und wäre das nicht die Chance, das Melodram endlich in die deutsche Filmwelt zurückzuholen? Die Geschichte, wie man in Österreich aufwächst und immer fremd bleibt, das ist doch ein Melodram. Das ist Douglas Sirk, nur besser. Das sind: die große Geste, die heroische Tat, der unglaubliche Zufall. Selbst wenn alles nach außen ganz realistisch aussieht. Eine Handlung, in der sich Widersprüche niemals auflösen lassen, egal ob du weggehst aus diesem Land. Aus diesem Land, das dir nichts geben konnte.
Und als letzter im Reigen sagt Hayati Terzi, Kulturwissenschaftler, als Sohn türkischer Eltern in Köln geboren, offen schwul lebend und Konvertit zum Katholizismus: Eine Fake-Dokumentation? Nein. Dreh doch gar nichts mit Menschen. Dreh doch einfach einen Film über das Viertel, aus dem die beiden Wienerinnen kommen. Ohne das alles zu erwähnen. Ich stell mir dasselbe schon seit langem für mein Viertel vor, weißt Du? Köln-Mülheim, oder meinetwegen auch gar nicht das ganze Viertel, meinetwegen nur unsere Straße, nur die Keupstraße. Ich hab mich so oft in meinen dreißig Lebensjahren wie die Keupstraße gefühlt: Immer wieder zeigt jemand auf dich, weil du ein Musterbeispiel für Parallelgesellschaft bist. Ich, die Keupstraße, bin ein kultureller Brennpunkt, nicht zivilisiert wie alles drumherum, orientalisch irgendwie. Eine ehemals erfolgreiche bio-deutsche Einkaufsstraße, die durch die kulturellen Eigenarten der Gastarbeiter niederging, nur dadurch, NICHT durch Strukturwandel, fehlende Stadtentwicklung oder die Gefräßigkeit neoliberaler Wirtschaftsformen. Das hier ist der Orient, oder zumindest das, was der weiße Westen davon braucht, um sich abzugrenzen. Und das noch mehr, noch viel mehr, seitdem hier die Nagelbombe explodierte, am 9. Juni 2004. Es ändert nichts, daß keine islamistischen Terroristen sie zündeten, sondern Nazis.

Nachdem er aufgelegt hat, geht Jörg Albrecht die Stichpunkte durch:

Musical
Fantasy-Saga
Melodram
Fake-Doku
Doku

Oder vielleicht nichts davon? Vielleicht nur Titel? Vielleicht kann die Liste der Titel doch viel mehr erzählen als alles, was über Titel hinausgeht? Vielleicht ist diese Geschichte, von der wir so gut wie nichts wissen, so am besten greifbar? Sie wird nicht begreifbar. Und eigentlich, denkt Jörg Albrecht, weiß ich auch gar nicht, wie, weil ich nicht weiß, was daran genau mich berührt.
Albrecht schreibt eine Nachricht, beginnt eine Nachricht zu schreiben an den klügsten Menschen, den er kennt. Wenn der ihm nicht helfen kann, wenn dieser Weiseste aller Weisen, wenn Lenz Westen aus Wien nicht Dunkel in das Licht der Tatsachen bringen kann, wer dann? Mein Spatz, schreibt Albrecht, können wir reden, keine Sorge, es geht NICHT um dich und mich. – Wenn du und ich reden, geht es, egal worum es geht, immer um dich und mich, schreibt Lenz Westen binnen sieben Sekunden zurück. Ruf mich in einer halben Stunde an.
Um die Zeit zu überbrücken und das Vibrieren des Phones zu übertönen, dessen Display konstant anzeigt: Larry Stutzenstein ruft dich an!, dann: Unbekannte Nummer ruft dich an!, dann: 72 neue Nachrichten in deiner Mailbox!, wühlt Jörg Albrecht auf seinem Tablet nach Sätzen, nach Bildern, nach irgendwelchen Fetzen, die in ihm etwas triggern können.
Wir schätzen es, wie du mit diesen Pop-Phänomenen spielst, du bist genau der richtige für das Projekt! Sagte die Crew von 21st Century Fox ihm vor Wochen, und allein die kurze Linksbewegung der Aufgäpfel des Jörg Albrecht, dieses kurze Stutzen hätte Larry Stutzenstein stutzig machen sollen.
Ist der weltweite Fundamentalismus das letzte Sinnangebot an eine Jugend ohne Träume? BILD-Checkliste: Wie ISIS-Kämpfer mit Sexsklavinnen umgehen sollen. Es falle ihnen schwer, wirklich daran zu glauben, daß ihre Kinder von uns völlig unbemerkt in eine andere, fremde Welt abgedriftet seien, zitiert die Zeitschrift News Angehörige. Wenn man als 14-Jährige zum Beispiel in Berlin-Neukölln aufwächst, gibt es viele Möglichkeiten für Frauen: Minirock oder vollverschleiert – manche überfordert das. Mädchen wie Sarah schwärmen für IS-Kämpfer wie andere für Popstars. Da gibt es eine richtige Fangemeinde pubertierender Mädchen, sagt Islamismus-Expertin Dantschke. Das ist deren Justin Bieber.
Wie kann ich aus diesen Schnipseln, aus soziologischen Splittern, aus Poptheorie, die den Pop diffamiert, aus Pornoüberschriften irgendetwas formen? Und wie kann ich die Geschichte der jungen Frauen erzählen UND der Gesellschaft, in der sie gelebt haben, aus der sie gegangen sind, ohne daß ich nur die Geschichten dieser Gesellschaft reproduziere? Und, ohne wieder Listen zu machen. Top-Ten-Listen: The worst of migration’s transgressive potentials. The best of migration’s transgressive potentials.
Und dann starrt Jörg Albrecht wieder auf sein Tablet, auf dem sich alles auf einer Ebene gegeneinander verschiebt, das eine ist neben dem anderen, es ergibt keinen Raum. Aber das hier, das alles soll doch dann ein Stück KINO werden. Wie kann ich hier in ein Fenster schauen, in dem alles nicht mal flach ist, sondern nur noch flat, und dann erwarten, daß der tiefe, tiefenscharfe Blick des Kinos dadurch möglich wird?
Jörg Albrecht schaut auf die Uhr und fragt sich, ob er einschlafen soll, weil er nichts ordnen kann, nichts.
Dann denkt er an Bin Yenh Prettlbaur, diesen Ruhigen, Besonnenen, der in der Geschichte der Wiener Dschihadistinnen nur seine eigenes Melodram sieht, das Melodram des Migranten, der keiner sein will, die ganze große Melancholie, die niemanden interessiert, nur dich.
Dann denkt er an Oleksandra Shwetz und an Brian Storm, an ihr Plädoyer – getrennt vorgebracht, nicht gemeinsam –, ihr Plädoyer: für das Fantasy-Epos, für die Krieger, für ein martialisches Leinwandspektakel, das sowieso keine deutsche Filmförderung finanzieren würde, und in dem – wenn schon, denn schon – die ganze Brutalität des 21. Jahrhunderts zum Tragen kommen müßte, die Brutalität der kriegerischen Körper, die sich in der Gewalt transzendieren wollen, ohne zu merken, daß das Blut, die Haut und die Nervenfasern das nur für eine Millisekunde können, um danach zu schweigen.
Dann denkt er an Emre Specht und dessen Worte, daß das alles, alles, was gleichzeitig passiert, in der arabischen Welt und hier bei uns, zusammenhängt, aber eben ganz anders.
Dann denkt er an Hayati Terzi und an die Keupstraße, an Hayati Terzis Keupstraße, an Hayati Keupstraße, an das Nagelbombenattentat in der Keupstraße, denkt an den 9. Juni 2004, an den er sich nicht erinnert.
Jörg Albrecht erinnert sich auch nicht an den 9. September 2000. Nicht an den 13. Juni 2001. Nicht an den 27. Juni 2001. Nicht an den 29. August 2001. Nicht an den 25. Februar 2004. Nicht an den 9. Juni 2005. Nicht an den 15. Juni 2005. Nicht an den 6. April 2006. Nicht an den 25. April 2007. Aber an den 4. April 2006. Er denkt an diesen 4. April. Gegenüber dem Haus, in dem er damals wohnt, in der Dortmunder Nordstadt, Mallinckrodstraße, liegt ein Kiosk. Am 4. April 2006 wird Mehmet Kubaşık, der Besitzer dieses Kiosks, erschossen.
Am selben Tag ist das Polizeiaufgebot in der Nordstadt noch höher als sonst. Und niemand weiß, was genau geschah. Am nächsten Morgen kommt Jörg Albrechts Mitbewohnerin erst um halb fünf nach Hause, um sechs steht er selbst auf, um laufen zu gehen. Erst an diesem Morgen lesen sie von der Ermordung Kubaşıks. Erst Tage später sehen sie das Schild am geschlossenen Kiosk, ein Schild, aber was sagt es? Es sagt mehr als nur: Wegen Todesfall in der Familie geschlossen. Das Schild verbirgt seine Trauer nicht. In Jörg Albrechts Erinnerung sagt es: Wir trauern um unseren ermordeten Ehemann und Vater. Wir können hier nicht weitermachen, nicht jetzt. Oder steht dort gar nichts, im April 2006? Vielleicht steht dort nichts. Der Kiosk jedenfalls wird nie wieder öffnen.
In den nächsten Tagen werden Polizei und Medien und Anwohner schnell wissen, was hier geschah. Es ist alles klar. Drogen. Schutzgeld. Dönermord. Die Dortmunder wußten immer schon, daß mit der Nordstadt kein Staat zu machen ist. Kein Nordstaat. Dafür sind viel zu viele Südländer da, diese ganzen südlichen Länder, die ihre Bewohner, wenn sie sie nicht mehr bewohnen wollen und herkommen, mitschleppen. Und auf einmal stehst du im Sommer auf einer Straße, alles ist voll von Menschen, die Kinder toben herum, die Frauen reden miteinander, als wären wir nicht mehr hier, sondern irgendwo in Istanbul.
So viele Ausländer auf den Straßen, ist mir sofort aufgefallen, sagt vier Monate nach dem Tod Kubaşıks ein junger Polizist, der Albrechts Wohnung als Nachmieter besichtigt, is ja alles voll von denen.
Und irgendwann ist die Geschichte einfach so. Es wird schon so sein. Gewesen sein. Ja, sicher, niemand hätte diesem freundlichen Mann im Kiosk das alles zugetraut, diese Drogengeschäfte, aber ist das bei Kriminalität nicht immer so? Ist es nicht immer unsichtbar, wenn jemand in etwas abrutscht, in eine fremde Welt, die sich verborgen halten will?
Das zumindest ist meine Geschichte, und nun ist der Tote Teil davon, und auch wenn er tot ist, indem ich diese Geschichte von ihm erzähle, halte ich ihn irgendwie am Leben. Ich habe Sie aufgefrischt, ich habe Ihnen das Leben gegeben, und Sie gehören mir wie das Geschöpf dem Schöpfer, wie in den orientalischen Märchen der Ifrit dem Geiste, wie der Körper der Seele.
Wie konnte ich das einfach so glauben? Von April 2006 bis November 2011. Wieso habe ich über fünf Jahre angenommen, daß der Ermordete Opfer seiner eigenen Geschichten wurde? Daß er die Mitschuld an seinem Tod trug? Fragt sich Jörg Albrecht. Und er liest eine Notiz, die er sich auf die Seite gelegt hat, um sie irgendeiner Figur im geplanten Film, oder irgendeiner Figur in irgendeinem geplanten Film, in den Mund zu legen, etwas von Pasolini: Der Tod bestimmt das Leben.
Und wieder ein Artikel: Sie wollen Märtyrer heiraten, sagt der schwedische Terrorismus-Experte Magnus Ranstorp. Es gibt fast eine Art Obsession mit dem Paradies und dem Leben nach dem Tod, was es zu so etwas wie einem Todeskult macht. Der Tod zählt mehr als das Leben.
Und Albrecht schaut wieder auf die Bilder der beiden Wienerinnen, dieselben Bilder, die überall auftauchten, dieselben Bilder, dieselben Worte, dasselbe Denken. Wenn alle dasselbe denken, wird nicht gedacht.
Und in diesem Moment kommt Rettung. In diesem Moment kommt Lenz Westen.

Ich führe immer dieselben Gespräche, egal, mit wem. Nur wenn ich mit dir spreche, sage ich auf einmal andere Dinge. Oder: sage ich anderes über die Dinge.
Sagt Jörg Albrecht zu Lenz Westen, der ihm gegenüber auf dem Divan sitzt. Aber eigentlich sitzt gar nicht er dort, nur sein Bild, Mini-iPad-groß. Lenz Westen ist zwanzig Jahre alt, studiert Kultur- und Sozialanthropologie, ist klug, als wäre er emiritierter Professor, und auch ansonsten wunderschön. Er eilt durch die Gänge und Kammern des Wiener Kunsthistorischen Museums, wie fast jeden Sonntag. Und in meinem Leben ist sehr oft Sonntag, sagt Lenz Westen, während er nun sein Tempo drosselt, um die Kunstkammer zu durchschreiten, und Albrecht im Flüsterton zu offenbaren, was er ihm schon sehr oft offenbart hat:
Du weißt, ich kann mit zeitgenössischer Kunst so gut wie nichts anfangen, noch weniger mit dieser ewigen Gesellschaftskritik. Was ist eigentlich mit der guten alten L’art pour l’art? Aber gut. Wie stehts um dein Exposé?
Schlecht. Sehr, sehr schlecht. Ich bin nicht mal über mögliche Titel hinausgekommen. Dafür gibs davon eine Menge.
Ein Film, der nur aus Titeln besteht? Oha.
Aber um dir zu sagen, wo ich gedanklich stehe –.
Ich habe schon befürchtet, sagt Lenz Westen, daß deine Gedanken irgendwo stehen, aber nicht dort, wo sie stehen oder besser: rumrasen sollten, nämlich in den Objekten. Deshalb habe ich dich mal wieder hergebracht. Sagts und zeigt auf ein goldenes Miniaturschiff, einen Automaten aus dem 16. Jahrhundert, der sogar kleine Kanonenkugeln abschießen kann.
Treffer!, sagt Jörg Albrecht. Also, paß auf, ich versuche die ganze Zeit, mir einen Film vorzustellen, der möglichst wenig bemüht ist, den ich im Grunde nur aufziehen muß wie dieses goldene Schiff, und der sich dann von allein über diesen schwierigen Ozean namens Realität bewegt, ach was, ein Ozean, diese vielen Ozeane, unendlich weit. Aber ich schaffe es nicht.
Wenig bemüht ist auch nicht grad dein Stil, hm?
Oh, ich bemühe mich sehr hart darum, voraussetzungslos zu sein, das mußt du mir glauben. Ich wollte eigentlich die möglichst einfache Variante der Geschichte erzählen: die, in der die beiden jungen Frauen aus der Stadt, in der du lebst, nach Syrien gehen, als Opfer ihrer eigenen Fiktionen.
Die Frauen als Fiction Victims? Oder auch wir, das westliche Publikum?
Genau das ist doch schon die Frage. Wir nicht auch? Wir erklären uns die Dinge und bleiben an diesen Erklärungsversuchen haften. Ich müßte mich doch Monate, nein, ich müßte mich Jahre in diese Umstände hineinwühlen, in die vielen Versionen dieser vielen Geschichten, und wenn ich gerade eine Art Überblick gewonnen hätte, wäre die Lage schon wieder ganz anders. Wie kann ich über etwas schreiben, das sich, während ich schreibe, verändert?
Das kommt davon, wenn man immer alles viel zu komplex sieht! Halte es doch einfach fest, einen Aspekt mit einem Mittel für eine begrenzte Zeit. So haben es alle großen Künstler zu allen Zeiten gemacht, hier [zeigt auf eine Furie aus Elfenbein hinter sich]. Reicht das denn nicht?
Nein, das reicht nicht!

Alles reicht nicht. Es reicht mir nicht, andere zu Fiction Victims zu erklären, ohne die anderen Opfer zu sehen, die, die nicht weggingen, die, die eigentlich hier leben wollten, die Opfer der riesgen Fiktionen von Fortschritt und einer einzigen Identität für alle.
Was haben diese beiden jungen Frauen, die nach Syrien gingen, als Opfer ihrer eigenen Fiktionen, mit den Opfern zu tun, die ein heimlicher innerdeutscher Bürgerkrieg forderte, zwischen 2000 und 2007?
Herr Georg Seeßlen schreibt: Wer sich fremd im eigenen Land fühlt, der tut sich entweder mit den Nazis zusammen, jenen, die das Fremde aus dem Land jagen oder gleich vernichten wollen, oder mit den Dschihadisten, die das Fremdsein umwidmen in einen Heiligen Krieg gegen das, was fremd macht, und für das, was eine Heimat verspricht. [Zitat Ende]
Das, was fremd macht. Genau das ist es, worum es in dieser ganzen Geschichte doch geht oder gehen müßte, um sie spürbar zu machen, um sie nachvollziehbar zu machen, und sei es in einem Film. Was ist das für eine Bewegung hier, in dieser Gesellschaft, die Menschen denken läßt, sie seien fremd? Was ist es, daß manche in die Position der Schwäche verweist, aus der sie nicht mehr entkommen? Und dann doch entkommen. Aber eben nur SO [zeigt auf die Fotos der beiden Dschihadistinnen].
Wenn die US-Amerikanerin Jennifer Williams in einem Twitter-Post schreibt, daß sie den Koran gelesen habe, um den islamistischen Terrorismus zu verstehen, und daß sie am Ende zum Islam konvertiert sei, und wenn Zehntausende diesen Post wiederposten, und dann rauskommt, daß viele von ihnen Anhänger des IS sind, was sagt das dann über diesen Post? Nicht-Muslime merken häufig nicht, wie viel Haß auf Muslime geworfen wird und wie sehr es die Seele zerstören kann, wenn man sich und seinen Glauben täglich verteidigen muß, sagte Williams.
In den Artikeln über die nach Syrien gegangenen Wienerinnen, in allen Berichten wird spekuliert, wie es dazu kommen konnte.
Und auch das Feuilleton gibt sich alle Mühe, die Ursachen auszumachen und berauscht sich an der Existenz des Pop-Dschihad, als wollten manche der Journalisten am liebsten selbst ein bißchen die Authentizität und Coolness von Kalaschnikows spüren. Andere nutzen die Gunst der Stunde, um populäre Kultur per se zu diffamieren. Das Paulchen-Panther-Video, das in Neonazi-Kreisen kursierte, bevor der NSU aufflog, konnte das nicht leisten.
Daß die Propagandavideos wirken, daß in diesen Videos populäre Musik, vor allem Rap, eine große Rolle spielt, ist unbestreitbar. Daß, wie Seeßlen schreibt, de[r] Übergang von der Popfantasie des Kriegers zu der blutigen Realität SMOOTH wird, ist plausibel. Aber an welchen neuralgischen Punkten setzen diese Mittel an? Für wie minderbemittelt halten wir Jugendliche, die nur ein Musikvideo sehen müssen, um in den Dschihad zu ziehen? Blieben MÄDCHEN [und JUNGEN] in den Achtzigern Jungfrau, weil Madonna Like A Virgin sang?
Irgendetwas muß doch massiv schiefgehen, damit einfach gestrickte Zeichen so eine Wirkmacht entfalten und Werte abrufen, die jeglichen Sinn für gegenseitige Verpflichtung und Verantwortung zerstören. But to whom can I be responsible, and why should I be, when you refuse to see me? Schreibt Ralph Ellison in Invisible Man, und weiter: And wait until I reveal how truly irresponsible I am.
Und auf einmal ist sie da, die fantastische Kriegerin, die Waffe in den Armen, ihre Existenz: ein einziges Schweigen, eine Absage an die Möglichkeit, mit Sprache etwas erreichen zu können. Oder ist es sogar mehr, ist es die Absage daran, überhaupt noch etwas sagen zu müssen, ein Schweigen, das sich keiner Schuld bewußt ist und auch nicht sein will, das Schweigen einer Mörderin, Schweigen vor jeglichem Gericht? Und im Hintergrund läuft U2.
Also: Aus welchen tieferen Beweggründen gleiten Menschen in die Radikalisierung ab, Richtung IS UND Richtung NSU? Deutschland im Herbst. Deutschland im Krieg. Zwei Deutschlands im Krieg. Reden wir nicht über Moscheen und Salafisten [nicht jetzt!], reden wir nicht über Krieger und Models [nicht jetzt!], reden wir über die Mehrheit und ihre Gesellschaft.
Wie kann eine Mehrheitsgesellschaft davon ausgehen, daß sie bestimmte Gruppen ausschließt – und damit die einzelnen Menschen, die diesen Gruppen angehören, auch aus ihren Geschichten ausschließt –, und daß die Ausgeschlossenen trotzdem brav bleiben und sich weiter bemühen, reinzukommen? Was für ein Schlag ist es, jeden Tag gesagt zu bekommen, daß man nicht zur Geschichte der Gesellschaft gehört, in dem man lebt? Und daß die eigene Geschichte damit nicht zählt. Das ist gar keine Geschichte, guck doch mal hin, das ist ein dreckiger Rest.
Wird den Ausgeschlossenen ihre Geschichte abgesprochen? Oder nur dieser Geschichte die Fähigkeit, etwas zu repräsentieren, etwas, das irgendjemanden angeht außer die, die diese Geschichte mit sich herumtragen? Ja, das ist doch der entscheidende Punkt, daß die Geschichten angeblich nur dann erzählt werden müssen, wenn sie ALLE angehen, wobei ALLE immer nur bedeutet: die Mehrheit, die gefühlte Mehrheit. Wir kennen es doch. Du und ich, Lenz Westen, wir kennen es so gut: Fühlt es sich für jemanden, der als Mann Männer liebt, nicht gleich ganz anders an, wenn auf einmal in einem Film oder einem Musikvideo zwei Männer sich küssen, Sex haben oder meinetwegen auch auf Distanz bleiben, aber jeder sieht: Diese Distanz ist, was sie verbindet? Ist es nicht eine uralte Angelegenheit, die aber so uralt ist, daß wir sie offenbar nicht überwinden? Und kommen wir da, frage ich den ziemlich stillen, außergewöhnlich stillen Lenz Westen, nicht zu einem Punkt?

Du wirst es mir sicher gleich sagen, mein Spatz.
Ist der Punkt nicht dieser Blick, unser Blick auf die unter uns, die angeblich nicht so sind wie wir?
Von wem redest du? Von Homos und Transen? Oder von wem?
Ich meine den Blick auf alles, was dem christlich geprägten, weißen, heterosexuellen Mittel- oder Oberschichtsmann fremd ist. Der Blick auf Frauen. Der Blick auf Migranten. Der Blick auf Muslime und Juden. Der Blick auf Schwule, Lesben und Transidente. Der Blick auf Menschen, die mit Behinderungen leben. Schau noch weiter ins Lexikon, ins Lexikon der Trauer, dort sind alle verzeichnet, diese Minderheiten, die nicht mal statistische Minderheiten sein müssen.
Jetzt wirst du wieder so grundsätzlich. Das ist süß, aber auch so naiv. Sag mir also, was das mit deinem gescheiterten, sorry, gerade noch scheiternden Filmexposé zu tun hat, und was mit den beiden Frauen, die nach Syrien gingen.
Die Perspektive!

Dieser wohlige Schauder, der beim Lesen der Artikel über die sogenannten Dschihadmädchen den Rücken entlangläuft, runter bis zum Arsch. Das geht runter wie Öl, was? Ich habs doch gesagt, daß das alles kein gutes Ende nehmen wird. Es gruselt mich ein bißchen, aber darin fühle ich mich wieder wohl. Weil ich weiß, daß, selbst wenn es Gefahr gibt, der Westen überlegen sein wird. Die Dschihadistinnen sind, wie einige sagen, ja nur die Dr. Hyde-Version unserer selbst. Nicht mehr. Wir sind in jedem Fall zuerst da, und dann erst die anderen.
Der Blick, der sich in den Medienberichten auf das Umfeld der beiden nach Syrien gegangenen Frauen richtet, ist keiner des Mitgefühls, aber auch kein analytischer. Es ist einer, der nicht erklären will, sondern bestätigen. Er behauptet, indem er sich auf dieses bosnisch-muslimische Umfeld richtet, bereits, daß das Erblickte eine Parallelgesellschaft ist. Letztlich manifestiert er vor allem, daß diese nicht-christlichen, nicht-bio-österreichischen Menschen ein Problem haben, daß sie dieses Problem selbst erzeugen oder nicht in den Griff bekommen, und daß es nicht sein kann, daß WIR darunter leiden.
Mitschülerinnen kommen zu Wort, die beteuern, daß das, was da geschehe, nichts mit dem Islam zu tun habe. Und nebenbei werden die Gender-Stereotype untermauert, die man andererseits dem IS vorwirft: Es sei ja naiv zu glauben, als Mädchen könne man in diesem Krieg kämpfen, da bleibe einem ja nur der Haushalt und das Kinderkriegen. Frauen könnten in dieser Situation ja nicht mehr.
Damit wird einmal mehr das Verständnis verweigert, daß es DEN Islam nicht gibt. Weder hier noch in Syrien, Libyen, im Irak oder in der Türkei. Katar is not Saudi-Arabia is not Abu Dhabi is not Dubai. Dieses Verständnis wird verweigert, weil – sobald ein diversifiziertes Verständnis da wäre – der Islam weder abgelehnt noch vereinnahmt werden könnte, im Sinne von: Der Islam gehört zu Deutschland. Zeitgleich wird aber auch die Einsicht unmöglich, daß es vielleicht überhaupt nicht mehr darum geht, was hier vom Islam oder vom Islamismus gedacht wird. Weil es längst ein Krieg zwischen denen ist, die den Islam – eben: unterschiedlich – leben. Und wir stehen außen vor und verstehen nichts.
Zum Mitschreiben: NICHTS.
Laß uns lieber ein bißchen Wellness machen. Der wohlige Schauer, wenn wir die Poster der Postergirls des Dschihad anschauen: Ich hab immer gewußt, daß da irgendwas nicht stimmt. Daß es nicht richtig war, so viele Flüchtlinge hierher zu holen, im Jugoslawienkrieg. Sicher, damals habe ich auch gesagt, daß das alles gut wird, daß die hier ein besseres Leben bekommen, einen Job finden und ihr Glück, daß die ja im Grunde auch zu uns gehören, diese vielen Völker, aber heimlich habe ich immer Angst gehabt. Jetzt sieht man, worauf es hinausläuft mit den Jugos. Die Bestätigung meiner Angst.
Und dann, auf einmal, die Angst der Bestätigung: Stimmt das auch? Stimmt das so denn nun wirklich auch? Und dann geht es trotz Zweifeln weiter, das Fremdheitstheater [Mark Terkessidis].
Sandrine Mées, französische grüne Stadträtin, zuständig für den angeblichen Pariser Problemquartier La Goutte d’Or, fragt: Wie sollen Erwachsene lernen, in einer Gesellschaft zusammenzuleben, wenn man sich nicht kennengelernt hat? Der Fanatismus tritt dort zu Tage, wo die Demokratie versagt.
Aber die Demokratie läßt sich in diesem Punkt nicht hinterfragen. Sie schiebt alles auf ihre kleine Tochter, die Integration. Umso erstaunlicher, daß bei den vielen Berichten über diejenigen, die nach Syrien gingen, immer wieder betont wird, wie integriert sie in die jeweilige Gesellschaft waren. Manche besser, manche schlechter, aber integriert. Wie sollen Erwachsene lernen, in einer Gesellschaft zu leben, wenn sie sie nie kennenlernen sollten?
Ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauch kurz ne Pause. Irgendwas an dieser Leidenschaft, alles zu kategorisieren, das Leben in passende kleine Kästchen zu füllen, reibt mich völlig auf, verwirrt mich, und die Bedeutung bricht unter allem zusammen. Alle Kategorien, von denen ich denke, daß sie uns helfen, zu definieren und die Realität zu kontrollieren, sind zurückgekommen, ein Bumerang, der uns mitreißt, ins Chaos, und das Chaos ist viel zu hell. Ich bin erschöpft.
Und der Begriff Integration auch. Auch er ist erschöpft. Er bedeutet in den Berichten nie dasselbe. Und das kann er auch nicht. Im Grunde kann er nichts, weil er immer als Waffe dient. Selbst das Lob, jemand sei gut integriert oder habe sich gut integriert, perpetuiert die Übermacht der Mehrheit und leugnet, daß man voneinander lernt, daß es wechselseitige Prozesse gibt, immer, wenn zwei Entitäten aufeinander treffen. Aber ich weiß auch nicht, welcher Begriff besser wäre.

Vermischung?
Nein.
Hybridisierung?
Das ist so ’99.
Gentrifizierung der Zellen?
Gott, bitte nicht.
Wieso dann nicht: Wanderungen? Wieso nehmen wir nicht einen Begriff, der die Menschheit seit Jahrtausenden prägt?, fragt Lenz Westen und zeigt währenddessen auf eine aufziehbare Entenfamilie, ein Spielzeug aus dem 17. Jahrhundert, dessen feine handwerkliche Mechanik uns beide bei unserem letzten gemeinsamen Besuch des Museums zutiefst beeindruckte. Wieso reden wir nicht darüber, wie Menschen wandern, manchmal sogar dann wandern, wenn es ihre Eltern waren, die ihr Heimatland verließen, während sie selbst schon in der neuen Heimat geboren wurden? Trotzdem wandern sie.
Aber reduziert das nicht wieder alles auf die Migration, als wäre die das einzige, was Menschen ausmacht? Ich bin – wenn überhaupt – aus dem Bauch meiner Mutter migriert, aber ansonsten von nirgendwo, sagte die Kabarettistin Idil Baydar einmal so präzise.
Ich rede, sagt Lenz Westen, nicht nur von Migranten oder ihren Kindern und Enkeln, den Postmigranten. Ich rede davon, daß es die Mehrheitsgesellschaft gibt, die immer schon angekommen ist, egal, wo sie physisch ist, weil sie ihre Geschichte hat, die sie sich nicht wegnehmen läßt, und mit der sie beliebig ein- und ausschließen kann. Und es gibt diejenigen, die immer NICHT ankommen, die ihr ganzes Leben irgendwohin wandern, sei es in dieses Land oder in das richtige Geschlecht oder in die Möglichkeit, ohne Angst den Menschen, den sie lieben, zurück zu lieben. Diese Bemühungen der Gesellschaften, die eben nicht zur Mehrheit gehören, die keine gemeinsame Identität haben, die aber eines gemeinsam haben: daß sie wandern!

Seit mindestens zehn, wenn nicht fünfzehn Jahren erodiert die Mehrheitsgesellschaft. Und das nicht, weil auf einmal mehr Menschen aus anderen Ländern herkommen, weil andere vom Christentum wegkonvertieren, weil Menschen sich als schwul, lesbisch oder trans outen, sondern weil die Entsolidarisierung, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und des Marktes überhaupt, die Privatisierung aller öffentlichen Güter, Räume und der Geschichten von Gemeinschaft längst ALLE betrifft. Sicher, manche mehr, manche weniger. Letztlich aber sind alle davon betroffen, alle sind in ständiger Gefahr prekär zu werden, herauszufallen aus dem großen Komfort der Mehrheitsgesellschaft. When one’s long habit of doing the work of being oneself no longer works. And perhaps it has never worked. Deshalb: Wenn alle wandern, dann wandern ALLE.
Aber Herrschaft und Teilen sind eben eins. Die Angst so groß werden lassen, daß sie nur in Aggression umschlagen kann. Und diejenigen, die Angst haben, schlagen nach unten, wo es nur geht. Solidarisierung haben wir verlernt, sorry. Oder wir haben sie weiterentwickelt und dann – ganz solidarisch – an andere weitergereicht. Solidarisierung heißt ab jetzt: Win-Win-Situationen schaffen. Und wenn ich nicht gewinne, dann du sicher auch nicht. Lose-Lose. Siehe: Pegida.
Und sich während der Schläge auf die Schwachen verzweifelt an die große Hoffnung hängen, daß man selbst nie zu den Schwachen gehören wird, solange man sich nur weiter anstrengt, daß irgendwann doch alles gut wird. Unbarmherziger Optimismus [Lauren Berlant].
Doch die Hoffnungen, die man als Teil dieser gefühlten Mehrheit hegt, richten sich nur auf die eigene Zukunft, auf das unmittelbare Umfeld, Familie, Freunde undsoweiter, auf die, die genau so sind wie man selbst. Denn das Vermögen, sich vorzustellen, wie unterschiedlich Religion und Sexualität, überhaupt: Alltag praktiziert werden können, ist in der Mehrheitsgesellschaft einfach nicht vorhanden. Hier ist nur eine Art von Wissen vorhanden und erlaubt. Und dieses Wissen unterscheidet zwischen dem rationalen Bürger, der natürlicherweise alle Rechte hat, weil er aus Zufall normal ist, und dem irrationalen Anderen, dem alles verweigert werden muß, so lange, wie es nur geht. Und bei der nächsten Bürgerrechtsverletzung in einem anderen Land zeigen wir trotzdem auf uns als Beispiel für die beste aller Welten. Diese riesigen Fantasien, die der Westen von sich in sich nährt. Sollten wir also doch einen Fantasyfilm drehen, einen über diese Fantasien des Westens?
Fantasies: Wovor haben wir Angst? Davor, daß die Menschen nach Syrien gehen und nie zurückkommen? Davor, daß sie mit ihrer Armee zurückkommen und keine Gnade kennen? Davor, daß sie allein zurückkommen und dann hier den Bürgerkrieg eröffnen? Daß wir selbst auf Folter und Mord angewiesen sein werden? Angst vor dem Tod? Oder davor, daß der Westen in all dem eigentlich gar keine Rolle spielt, höchstens die, daß er die Bilder weiter verbreitet, die zu verbreiten sind? Und wer sagt ihm, daß er die verbreiten MUSS? Sicher will er es auch.
Wie das zweiundzwanzigminütige Video von der Verbrennung von Muath al-Kasaesbeh, das Fox News Anfang Februar komplett spielte, unzensiert. Zuvor, nach den Attentaten in Paris, hatte derselbe Sender über das Viertel La Goutte d’Or in Paris berichtet, das angeblich für alle, die nicht muslimisch sind, lebensgefährlich ist. [Ebenso übrigens der Père Lachaise.] Offiziell ist das Viertel eine zone urbaine sensible. Sensibel. Ist da Vorsicht geboten, weil man verletzt werden oder weil man selbst verletzen könnte? I don’t care. Und die Redakteure träumen von weiteren Feuer-und-Explosions-Videos, fehlt nur noch ein Mädchen mit Knarre. Neulich, auf Megan Fox News.
Ich dagegen habe mich in den Tagen nach dem Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion gefragt: Warum ist es so einfach, die Journalisten aus Paris zu betrauern, die ums Leben kam? Wieso war der Schock bei den jüdischen Opfern im Supermarkt schon geringer? Und warum ist es offenbar noch unendlich viel schwerer, um neun Neonazi-Opfer zu trauern, die in Deutschland ihr Leben ließen? Der Mord des zehnten Opfers, der Polizistin Michèle Kiesewetter, wurde von der Öffentlichkeit sofort angemessen wahrgenommen und betrauert. Woher kommt diese Differenz? Niemand kann das sagen. Doch sie bleibt.
Ich würde so gern einen Film schreiben, der das ändert. Einen Film, der es möglich macht, zu weinen oder im stillen zu trauern, und zwar nicht nur über bestimmte Leben. Vielleicht werden auch die trauern, die bisher nicht verstanden haben, wie sehr so viele andere trauern, jeden Tag.
Es geht um die Vorstellungskraft, die eine Gesellschaft aufbringen kann, die sie aufbringt, indem sie sie praktiziert. Der Ethnologe Arjun Appadurai schreibt: The image, the imagined, the imaginary – these are all terms which direct us to something critical and new in global cultural processes: the imagination as a social practice. Vorstellungskraft ist also kein reines Vermögen, aber auch kein Ergebnis, sie ist eine Praxis, sie ergibt sich aus dem, wie Bilder, Vorgestelltes, Erfundenes gemeinsam ausgehandelt werden. Oder, wie Tom Holert formuliert: Der Bildraum ist untrennbar in das Soziale eingelassen. Also wie, wie können wir die gesellschaftliche Vorstellungskraft als etwas verstehen, das nicht fest ist und auf Objekte angewendet werden muß, sondern das in sich sozial agiert und Beziehungen herstellt? Und das darum auch dafür verantwortlich ist, welche Beziehungen hergestellt werden.
Wieso zum Beispiel wird so wenig der Zusammenhang zwischen islamischem Terrorismus und dem NSU gezogen? Wieso können wir die Opfer des IS einfacher betrauern als die, die mitten unter uns ermordet wurden? Ist es so viel einfacher, weil wir Bilder von den Ermordungen oder von den Umständen drumherum sehen? Sind die Bilder das einzige, was in uns Trauer auslöst?
Gamze Kubaşık, Tochter des ermordeten Mehmet, sagte: Sterben wäre für mich leichter gewesen als das Leben nach diesem Anschlag. Von: Two Girls Go To War zu: Eine Frau nach dem Krieg. Und dieser Krieg ging unbemerkt von sich, und weil er damals unbemerkt vor sich ging, weil wir so wenig von ihm sehen und hören konnten, können wir uns auch jetzt nicht dazu durchringen, mehr zu sehen und zu hören. Wir können nicht durchdringen, wie auch, eine riesige Nebelmaschine hat schon so viel in den Raum geblasen, daß wir lieber stehenbleiben, wo wir sind, um keinen falschen Schritt zu tun. Für manche sind falsche Schritte nur falsche Schritte. Für manche sind sie tödlich.
Und was ist mit der Scham? Was ist mit meiner Scham, die ich spüre, weil ich den Tod Mehmet Kubaşıks als Dönermord hinnahm? Brudermord, Dönermord. Kubaşık ist nahe der syrischen Grenze begraben, im Südosten Anatoliens, mit seinem Tod haben die Nazis es geschafft, ihn aus Deutschland zu verbannen. Wieso gibt es keinen festen Volkstrauertag, an dem der Opfer gedacht wird?
Als im November 2014 die Berliner Mauer aus Licht wieder aufgebaut wurde [aber nur vorübergehend!], damit alle – diejenigen, die sie noch erlebt hatten, und diejenigen, die nicht – sich an sie erinnern konnten [aber nur vorübergehend!], als alle sich wieder und wieder dieselben Fernsehaufnahmen gaben, genau die, die sie sich auch fünfundzwanzig Jahre zuvor schon gegeben hatten, und als einige sie wiedersahen und auf die Idee kamen, der Satz: WIR SIND DAS VOLK könnte wieder aus der Mottenkiste der Demonstrationskultur hervorgeholt werden, da war sie wieder da, groß und erhaben: die Geschichte der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Die gehört uns! Sie gehört UNS Deutschen! Und niemandem sonst! Es ist kein Wunder, daß der Satz WIR SIND DAS VOLK zur selben Zeit durch eine rechte Bewegung geclaimed wurde, da der Satz schon damals – auch wenn er nicht so intendiert war – nur EINE Geschichte erzählte, nur diese deutsch-deutsche. Schon damals war dieser Satz ein Ausschluß, weil er eben nicht die Bürger meinte, sondern etwas, das auf einer diffusen Bioverwandtschaft basierte und noch immer basiert.
Und schon damals starrten wir auf die Türken, als die in den Straßen Berlins mit uns feiern wollten und fragten: Wieso feiert ihr hier mit? Und dann standen sie da, getroffen, aber warum? Als hätten sie sich einer anderen Person überlassen, ohne darüber nachgedacht zu haben, ohne überhaupt darüber nachdenken zu können, was das bedeutet, sich jemandem zu überlassen, der einen auf einmal entläßt. Die Mauer ging auf, und wir Deutsch-Deutschen taten so, als wären diejenigen, die hierher gekommen waren, nur vorübergehend hier. Alle taten so, als wären die Migranten nur vorübergehend. Sie selbst erzählten sich diese Geschichte, Tag für Tag: Irgendwann, wenn die Kinder groß sind und mit der Schule fertig, gehen wir wieder, oder wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen oder geheiratet haben, oder wenn unsere Enkel geboren sind, wenn die in der Schule, mit der Schule fertig, mit der Universität –.
Die nationale Kultur täuscht eben alle, nicht nur die, die sie einschließt. Alle. Irgendwie schafft sie es dennoch, die Hoffnung auf Gegenliebe aufrechtzuerhalten. Und dann? Dann lassen wir dich mit deiner Liebe allein. JA! Am Ende wirst du auch MIT dieser Liebe allein sein.
Und so kann Joachim Gauck, Retter der Freiheit, noch im März 2014 bei einem Staatsbesuch am Kottbusser Tor mit Menschen plaudern, die nicht deutsch-deutsch sind, und ihnen den Satz um die Ohren hauen: Wir lernen noch, eine vielfältige Gesellschaft zu sein. Ja? Really? Und wieso, auf welcher ideologischen Basis, kann jemand, der vom DDR- zum BRD-Bürger wurde, ohne dafür einen Einbürgerungstest bestehen oder einen Antrag stellen zu müssen, das sagen? Welche Paradoxien liegen hier vor, ohne daß jemand, der von der nationalen Identität geschützt wird, sich dafür rechtfertigen, ja, ohne daß er überhaupt darüber nachdenken müßte?
Bevor die Mauer fiel, waren die Themen der Migranten in Berlin zum Beispiel omnipräsent. Die Wiedervereinigung brachte diese politischen Prioritäten vollkommen durcheinander. Die Anliegen wurden ganz und gar vom Tisch gefegt.
Als die Jugendlichen, in Kreuzberg geboren, von Eltern, die aus der Türkei stammten, nach Ost-Berlin rübergingen, um zu sehen, wie es da aussah, starrten die Leute dort sie an, als ob sie solche Menschen noch nie gesehen hätten. Und das hatten sie auch nicht. Und schon war die Täuschung der nationalen Kultur am Werk: Während die Ostdeutschen die Wiedervereinigung feierten, bereitete die Treuhandanstalt bereits ihre Enteignung vor. Deutsch-deutsch entpuppte sich als west-deutsch. Doch die Fiktion namens Nation behauptete weiterhin das Gegenteil. Den Bedeutungsverlust, den manche Ostdeutsche sehr schnell analysierten, sehr viele nur fühlten, lasteten sie denen an, die durch die Wiedervereinigung ebenso viel verloren wie sie. Im Manöver, das vom Siegeszug der Privatisierung ehemaliger DDR-Güter ablenken sollte, wurden die sogenannten Ausländer zu Zielscheiben ernannt. Und so war der Boden bereitet, auf dem die Neunziger das neue deutsche Selbstbewußtsein als neuen Rassismus nährten. Das ist die Linie, die von der deutsch-deutschen Wiedervereinigung über Lichtenhagen/Mölln/Solingen und den Thüringer Heimatschutz/NSU zu Pegida läuft.
Und die Linie, die nebenher läuft, viel, viel schwächer, die Geschichte des Widerstands der migrantischen Bürger gegen diese Einheitskultur, das wäre eine schlingernde Linie, nein gar keine Linie, eine Vielzahl von Linien, eine davon die der türkischen Jugendgangs in den Neunzigern, eine die der einfachen, alltäglichen Freundlichkeit gegen den Haß, eine die der islamistischen Radikalisierung, aber das sind nur drei von vielen. Alles splittet sich auf.
Die Zerrissenheit, die immer wieder betont wird, wenn Menschen im Vordergrund auf den Migrationshintergrund anderer zeigen. Du gehörst nicht zu diesem Volk, aber auch nicht zu dem, in das du geboren wurdest. Du gehörst nirgendwohin.
Die sind nicht zerrissen, die tun nur so, sagt ein Vorzeigemigrant, der hauptberuflich Katzenkrimis schreibt, im ZDF-Mittagsmagazin. Meine Landsleute sind nicht zerrissen, sie benutzen das nur, damit die Deutschen sich schuldig fühlen, sagt der Katzenkrimischreiber dann. Ja, ich habe dieses Land von der ersten Sekunde an geliebt, von der ersten Sekunde an!, ruft er mit leuchtenden Augen, der Vorzeigemigrant, er, der von niemandem vorgezeigt wird, der sich selbst vorzeigt, als Migrant. Und sie damit noch steigert, die riesige Popularität des Fremdheitstheaters, [Zitat Tom Holert:] auf dessen Bühnen der Status des/der Anderen als AUSLÄNDER/IN festgeschrieben wird, um so die Integrität der nationalen Familie der Einheimischen zu bewahren. [Zitat Ende]
War die Staatstrauer für die Mordopfer des NSU deshalb so bemüht? Oder war sie das gar nicht? Hörte sie sich nur so an, weil alles um die offiziellen Trauerakte herum darauf hindeutete, daß die Aufklärung der Umstände, unter denen die Betrauerten ums Leben gekommen waren, verunmöglicht wurde? Das Surren der Aktenshredder, auch während der Trauerakte.
Trauerakten.
Nein, die wird es nicht geben. Nicht, solange ich am Leben bin. Sagt der Rassismus, der in unserer Wahrnehmung enthalten ist und bleibt. Hörte sich die Trauer deshalb manchmal so vorwurfsvoll an? ENTSCHULDIGUNG! Es klang so wie jemand, der auf der Straße andere Leute überholen will und dabei einen Entgegenkommenden anrempelt und sagt: ENTSCHULDIGUNG!? Gemeint ist kein Pardon. Gemeint ist: Kein Pardon!
Dieser Ton wiederholte sich mal wieder Anfang des Jahres 2015, als das Oberlandesgericht München im Prozeß gegen Beate Zschäpe die Opfer des Nagelbombenattentats in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 anhörte und sich nicht daran interessiert zeigte, zu erfahren, welchen Leidensweg die Verletzten und Traumatisierten hinter sich hatten, unter anderem, weil man sie selbst der Tat verdächtigt hatte. Es sei juristisch für diesen Fall irrelevant. Es ist juristisch insgesamt irrelevant.
Auch das Recht setzt den Rahmen für Trauer, klarer kann es nicht werden. Diese Trauer ist nicht juristisch relevant. Sie ist auch nicht für eine breitere Öffentlichkeit relevant. Das gehört nicht hierher. Bitte privatisiere deine Trauer endlich auch, Klageweib!

Mir fällt diese Ausstellung ein, sagt Lenz Westen, in die ich am Wochenende ging, obwohl ich sie nicht sehen wollte, weil Ethnologie im Studium mir absolut reicht, und dennoch ging ich hin: eine Ausstellung im Wien Museum über Orte der Sinti und Roma. In einem Dokument der österreichischen Behörden aus der unmittelbaren Nachkriegszeit wird protokolliert, eine Roma-Familie gebe sich als KZ-überlebend aus, um sich Leistungen zu erschleichen. Nachdem sie Auschwitz-Birkenau überlebt hatten, wurde diesen Menschen selbst ihre Erfahrung abgesprochen, ihnen wurde unterstellt, das nur zu behaupten, um sich Leistungen des Staates zu erschleichen. Aus irgendeinem Grund müssen diese Leistungen verweigert werden. Das ist die Ebene des exklusiven Nationalbewußtseins, in die das sogenannte fahrende Volk nie vordringen kann. Und indem die Aussage in Frage gestellt wird, die KZ-Überlebenden hätten das KZ überlebt, wird ihnen nicht nur die Erfahrung selbst abgesprochen, nicht nur das, was sich aus Rechten aus diesem Unrecht ergibt, sondern auch die Trauer darüber, was geschehen ist. Die Trauer darüber, daß man überlebt hat und andere nicht. Sind das die Akten, von denen du sprachst?
Ja.

Die Trauerakten: In ihnen wird festgehalten, wer Trauer verdient hat. Die Namen derer, die sie nicht verdienen, werden hier nicht festgehalten.  Niemand will euch festhalten! Ihr sollt gehen können, jederzeit gehen können, jederzeit gehen!
Der institutionalisierte und aktive Rassismus auf der Ebene der Wahrnehmung bringt ikonische Darstellungen von Bevölkerungsgruppen hervor, die in höchstem Maße betrauerbar sind, und er erzeugt Bilder von Gruppen, deren Verschwinden kein Verlust ist und die unbetrauerbar bleiben, schreibt Judith Butler.
Die große, unerwiderte Liebe: Dieses Land will sie nicht an alle vergeben, es ist wählerisch. Menschen kommen hierher, und ihnen wird unbedingte Liebe für dieses Land abgefordert. Sie müssen alles an diesem Land lieben, selbst die Werte, die ein Teil der Biodeutschen ablehnt und bekämpft, die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transidenten zum Beispiel. Die Menschen, die herkommen, müssen dieses Land bedingungslos umarmen. Und letztlich werden sie von ihm nie umarmt, nur umrahmt. Dieses Land stellt den Rahmen, in dem ihr ab jetzt steht, wenn ihr porträtiert werden wollt, okay?
Und was ist, wenn Menschen, die hierherkamen und alles an Liebe aufgebracht haben, um anzukommen, etwas zurückwollen? Und was wollen sie zurück? Auch Liebe, in Form von Akzeptanz, von Respekt und von politischer Gleichheit. Ah, geh! Geh und kämpfe! Und siehe: Ihnen ward ein Stückchen Liebe zuteil. Eine schön aggressive Liebe. Und selbst da können diejenigen, die gekämpft haben, nie sicher sein, daß sie ihnen bleibt. Es ist so leicht, diese Liebe wieder zu entziehen, und die Entscheidung obliegt denen, die schon immer hier waren, die immer dieses HIER waren. Die Eingeschlossenen werden wieder ausgeschlossen und merken, sie waren nie eingeschlossen.
Und die Ausgeschlossenen werden wieder eingeschlossen. Hier, da sind zwei junge Frauen aus Österreich, und sie gehen, ohne daß jemand es geahnt hätte, weg, gehen in die Türkei und dann nach Syrien, weil sie sich hier ausgeschlossen fühlen. Und indem sie dorthingehen, erwerben sie auf einmal das Recht, wieder eingeschlossen zu werden. Und sei es nur durch ihre Geschichte. Sei es nur, indem wir Kunstproduzenten hingehen und unsere Gesellschaftskritik an den Mann bringen wollen und dafür diese Geschichte verwenden, diese Geschichte namens: Zwei Mädchen im Krieg. Und was erzählt die? Daß Minderheiten doch zu uns gehören, und daß man nichts dagegen tun kann, wenn sie nicht dazugehören wollen. Und daß man, um zu beweisen, daß sie dazugehören, einfach so ihre Geschichte aufschreiben kann. Im Sinne von: Ich verstehe nicht, was in ihnen vorgeht, aber meine westliche Empathie ist eben stark genug, sich in sie einzufühlen. So einfach ist es. Siehst du, Herr Albrecht, es ist alles so dermaßen einfach, also bitte, setz dich auf deinen vom Yoga absolut entspannten Arsch und SCHREIB! Schreib, worüber du immer schreibst. Schreib über Liebe. Über Liebe, die nicht stattfindet. Die Liebe eines Volkes, das nicht lieben will, nur geliebt werden. Kommt hierher und liebt, was ihr seht. Und erwartet nichts zurück.
Wie spürt man, daß man kein Fremder mehr ist? Und wann? Wer ist überhaupt in diesem Land angekommen? Und wer nicht? Wer wandert immer noch, weil die Strecken einfach viel weiter sind, als sie aussahen?  Irgendetwas an der Perspektive stimmte vielleicht nicht. Oder ich verstand sie nicht. Jedenfalls rückte das Land immer weiter weg, je näher ich ihm kam. Und je länger ich wandere, desto mehr denke ich: Dieses Land wird nie bei mir ankommen.
Das Fehlen der Liebe, auf allen Seiten.
Es reicht zum Beispiel, wenn der Vater ermordet in einem Kiosk aufgefunden wird, das reicht schon, damit du auf einmal die Tochter des kriminellen Drogentürken oder – nicht ganz so schlimm – Schutzgeldopfers bist.
Weil mein Vater hätte noch leben können, sagt Gamze Kubaşık wenige Wochen, nachdem der NSU enttarnt worden ist oder sich selbst enttarnt hat, in einem Interview. Mein Vater hätte noch leben können. – Weil klar war, daß es nicht um ihn persönlich ging?, fragt die Journalistin nach. – Genau, ja.
Und auch das setzt sich fort. Auch in den Geschichten, die nach Mehmet Kubaşıks Tod über ihn erzählt werden, seitens der ermittelnden Behörden, seitens der Nachbarn, seitens der Medien, auch darin setzt sich genau das fort: Es geht nicht um ihn persönlich. Es geht um eine Vorstellung, die kursiert, und in der die Mehrheitsgesellschaft sich ausmalt, wie eine Minderheit lebt. Und deshalb weiß sie auch, wie eine Minderheit stirbt. Wie sie zu sterben hat. Bangbang.
Ich glaub, Trauer braucht so ein Jahr, und dann gehts dann auch, sagte vor einigen Monaten eine Frau zu einer anderen in der U-Bahn neben mir. Sie sprachen darüber, daß die eine von beiden ihren Mann verloren hatte.
Und was ist, wenn die Trauer viel länger braucht? Was ist, wenn sie auch vorher schon da war? Die Trauer darüber, daß man nie dazugehören wird. Man kann kämpfen, so viel man will. Man kann aufhören zu kämpfen. Man kann sich an alles anpassen, kann die Sprache und die Kleidung und die sonstigen Konsumgewohnheiten und Verhaltensweisen perfektionieren. Irgendjemand wird immer kommen und dir ansehen, daß du hierher gewandert bist, daß es ein langer Weg war, um so zu wirken wie –. WIR.
Diese Trauer war schon vorher da, und sie tauchte auch in der akuten Trauer der Angehörigen auf, als die vom NSU Ermordeten schon begraben waren. Sie tauchte in der akuten Trauer als Wissen auf, als Gewißheit: Es ist jemand gekommen, um zu töten. Jemand, der es nicht aushalten konnte, daß dieser Mensch, den ich verloren habe, eine Wanderung hinter sich hatte, die er eben nie hinter sich hatte, auf der er immer noch war. Und nun wandert der tote Körper zurück in das Land, aus dem er – lebend – kam. Vor dem Kiosk gibt es einen Gedenkstein.
Sterben wäre für mich leichter gewesen als das Leben nach diesem Anschlag, sagt Gamze Kubaşık. Und wieder kommt Pasolini kurz ins Bild, nein, in die Audiospur: Der Tod bestimmt das Leben. Wenn es vorbei ist, gewinnt das Leben erst einen Sinn. Davor ist jeglicher Sinn aufgeschoben und unklar.
Aber was ist, wenn der Tod das, was das gelebte Leben war, noch viel unklarer macht? Und wenn er sogar, im Gegenteil, sagt: Das, was du da gelebt hast, war überhaupt nicht lebbar, es tut mir so leid, es tut mir so unendlich leid. Und weil es so wenig lebbar war, können wir auch sehr, sehr schlecht darum trauern.
Den Angehörigen bleibt die Trauer. Und sie bleiben mit ihr allein. Ich verdränge die Erkenntnis, daß mein Vater als Deutscher in diesem Land gelebt hat, aber mit seinen schwarzen Haaren und seinen dunklen Augen der ständige Türke oder Kurde geblieben ist, schreibt Gamze Kubaşık. Und weiter: Es gibt Tage, an denen ich alles hier verfluche und in die Türkei oder irgendwohin anders auswandern möchte. Ich denke dann: Dieses Land will dich nicht. Es hat dir deinen Vater weggenommen.
Er ist weg. Und die Trauer überkommt sie in Wellen, sie läßt sie immer wieder aus sich heraus, auch wenn sie sich vorgenommen hat, heute endlich sie selbst zu sein, die Trauer läßt das nicht zu. Sie ist am Boden. Sie fällt durch den Boden. Sie ist erschöpft und weiß nie, warum. Sie hat nichts erreicht.
Du hast nichts erreicht, nicht mal dich! JA! Ich habe dir tausend Mal gesagt: Du bist unmöglich, wie kommst du darauf, daß du auf einmal das Gegenteil werden kannst: möglich?
Also, was tun? Schießen? Trauern? Noch mehr trauern? Und wäre die Trauer weniger zerstörerisch, als sich zu wehren? Sie bewegt sich viel weniger geradlinig, als man will. Und nie kommst du zu dem Punkt, an dem es wie ein Gebot dasteht: Ja, es gibt diesen Menschen oder diese Zeit, die du betrauerst, aber jetzt ist es halt vorbei. Immer rollt man es neu auf und fragt sich: Wieso habe ich das mit dir verloren, noch bevor es richtig angefangen hat?
Eine Frau nach dem Krieg. Nach einem Krieg, der hier stattgefunden hat. Und fast niemand sah es. Acht Schüsse. Aus nächster Entfernung. Ein Zusammensacken. Eine Blutlache. Ein Körper, der aufhört, zu atmen. Der Körper eines Mannes, der nicht ahnte, er würde seine Frau, seine Tochter, seine zwei Söhne nie wiedersehen. Und auch die Familie konnte ihn nie wiedersehen, nicht mal den Leichnam.
Noch mal: Wieso glaubte ich fünf Jahre lang, daß Mehmet Kubaşıks Tod einen rationalen Grund hatte? Und was wäre das auch: ein rationaler Grund für eine irrationale Tat? Er wurde Opfer einer Geschichte, die andere in ihm sahen, sehen wollten, und die mit ihm nichts zu tun hatte. Der Dreck, den andere der trauernden Familie anlasteten, dieser Dreck war nichts als die hegemoniale Bedeutung, die ihnen gelassen wurde. Ihnen, dem geschlossenen Kiosk, der noch immer leer steht, und dem Leichnam des Ermordeten.
Wenn ich mich deshalb schäme, dann kann ich mich nicht als Opfer der Erklärungen sehen. Ich bin mindestens ebenso sehr Täter. Aber das muß ich in mind haben, wenn ich nun auf diejenigen schaue, die nach Syrien gingen, um dort Dinge zu erleben, die sie sich in keinem Danteschen Alptraum hätten ausmalen können. Georg Seeßlen fragt: Wie könnten sich Angst und Mitleid arrangieren lassen, wenn doch eines klar ist: Auch der Rückkehrer ist eine Waffe des Terrors, so oder so.
Und dann sind wir wieder an dem Punkt, an dem der Film namens: Zwei Mädchen im Krieg scheitert, schon im Exposé. Die Übergriffigkeit von Fiktion, wenn sie aus dem Leben schöpft, um damit etwas über das Leben zu sagen und nicht über die Fiktion. Genauer: nicht über die Fiktionen, die das Leben erst für lebbar erklären, und das meint: für betrauerbar.
Aber was heißt das nun für die Literatur? Die alte Rolle – die Aufrechterhaltung der Moral – kann es nicht sein, wenn diese Moral wieder nur die der fiktionalen Sache namens Nation ist. Und worauf könnte ein Ethos basieren, das nicht ausschließt, mit dem Zeigefinger? Vielleicht auf Scham? Auf Trauer? Vielleicht lassen sich die Trauer derjenigen, die der Nation nie genügen werden, und die Scham derjenigen, die ihr automatisch genügen, und die sich schämen, daß sie dafür nichts leisten müssen, verbinden? Es bleibt für uns alle ein großes, unbekanntes Land. Ein Land, das geteilt war [divided] und nun endlich geteilt werden müßte [shared].
Ich müßte also an einem Film arbeiten, der all das zusammenfaßt, was nicht zusammenzufassen ist, nicht zu fassen ist. Und wie würde der heißen? Eine Frau nach dem Krieg. Oder: Die einen verlieren Väter, die anderen Töchter. Meine Güte, es wird doch nicht so schwer sein, einen Film zu erfinden, den man den Menschen nur vorführen muß, damit sie die Ermordeten UND die Weggegangenen betrauern können.
Manche Geschichten aber bleiben unverfügbar. Und warum? Weil sie vielleicht keine Geschichten sind, weil wir sie nicht verstehen können, wenn wir sie in Geschichten gießen.
Sag nicht so was.

Sagt Lenz Westen, der mich endlich unterbricht, der endlich meinen Redestrom unterbricht, fast ist meine Stimme heiser, und fast können meine Wangen gar nicht mehr röter werden, endlich unterbricht er mich. Wenn ich etwas von jemandem erwarte, dem ich es wage, meine Liebe zu zeigen, dann doch, daß er mich unterbricht, so oft wie möglich, genauso wie ich ihn unterbrechen will, das ist Liebe doch: sich gegenseitig unterbrechen, um nicht mehr einfach so da zu sein, du dort und ich hier.
Und, jetzt vor der Malkunst von Vermeer stehend, fragt Lenz Westen: Kann ich diese Trauer nicht auch ohne Film tragen?

 

entstanden für das Projekt Zwei Mädchen im Krieg auf dem Literaturblog 114 des S. Fischer Verlags