Du bist nie genug. Und wenn, freu dich schon mal auf die Distanz, die sich zwischen uns werfen wird!

Text


Neulich, am Tor nach Phantásien: Gerade hatte sich die Sonne angeschickt, wieder aus den Tiefen, in denen sie verschwunden war, aufzutreten, um langsam aber sehr sicher diese kurze Nacht zu beenden und ihre Jahr für Jahr neue Show namens Spring Break zu beginnen, und Virginia Rest hatte sich von den anderen verabschiedet, um die U-Bahn zu nehmen und rechtzeitig zur Frühschicht in der Krankenhauskantine anzukommen, als das übriggebliebene Grüppchen, allen voran Nastassja Kički und ihre drei Freundinnen, deren Namen sich niemand merken konnte, so daß sie überall nur die Drillinge hießen, ohne die entscheidenden Stücke DNA zu teilen, sich in Richtung des einzigen um diese Uhrzeit noch denkbaren Etablissements begeben hatte, in dessen Inneren ein Swimming Pool in wechselnden Farben leuchete und als Kulisse für elektronische Musik und mehr vibrierende als tanzende Körper wartete, unter anderem IHRE Körper, die sich nun genähert, in der Schlange gestanden und die Tür passiert hatten, oder nicht ganz, nicht alle, denn ausgerechnet der letzte Körper stand noch am Tor dieser phantastischen Welt, die für ihn, genauso wie für das restliche Grüppchen, dank einiger chemischer Zusatzstoffe auch ohne wechselnde Farbbeleuchtung wechselnd farbig geleuchtet hätte, wenn nicht die Wächter des Tores in Form zweier riesiger Sphinxen die Augen geöffnet hätten, weit, hellblau leuchtend, Laser-like, und gegen die Strahlen, die ihn treffen sollten, hielt der Besitzer dieses letzten Gesichts, den seine Eltern Dario getauft hatten, ein Schild aus Plastik hoch, das überhaupt nicht schützte, sondern die Nacht endgültig ruinierte.

–    Du bist einunddreißig?
–    Ähm. Ja.
–    Und DAS is dein Name? Dario Damiano?! Versuchs mit nem anderen Trottel, oder denk dir  zu dem gefaketen Alter wenigstens nen Namen aus, der echt wirkt.
–    Ich BIN echt! Außerdem kenne ich deinen Chef, Gringo, also an deiner Stelle würde ich –
–    Weißte was, Babyface? Das setze ich gleich an die Spitze meiner Liste mit dem Titel: Wen kratzt das?
–    Wenn du willst, kann ich DICH mal an der richtigen Stelle kratzen.
–    Am besten du nimmst jetzt deinen Glücksdrachen und fliegst GANZ SCHNELL weg!

Und dann bist du allein. Wenn deine Freunde schon drin sind, angezogen von wechselnden Farben, eingesogen in dieses phantastische Reich, das sie wenigstens eine Nacht lang pro Woche noch zu etwas anderem macht. Dario Damiano stand draußen, noch einige Minuten lang, es könnte auch sehr viel länger gewesen sein oder sehr viel kürzer. Und er weigerte sich, die Geräuschkulisse für die Kulisse drinnen, für den Swimming Pool, die vibrierenden Körper, das Wechsellicht, abzugeben, auch wenn so eine Geräuschkulisse jedes gute Nachtetablissement und jeder Kontinent namens Europa braucht: Das Klacken an den Fensterscheiben, Motten, die hereinwollen, natürlich riesig groß, hier, an der Grenze zu Phantásien, und umso größer, je mehr sie hineinwollen. Immer will irgendjemand irgendwo rein. Und immer muß jemand anderes sagen: Auf keinen Fall! Vor ein paar Jahren hätte er jetzt Angel angerufen, den Manager des Clubs, der schon im Sandkasten die Logistik beim Bau von Darios Burgen übernommen hatte, und er hätte Angel vom anderen Ende der Mobiltelefonverbindung zu sich geholt, um die harte Tür weichzumachen, doch noch durchzukommen, ein paar Entschädigungsdrinks von Angel spendiert und Angels aktuelle Freundin vorgestellt zu kriegen und irgendwann, am Ende der Nacht, eine der Tabletten zu schlucken, die es dir erlaubten, in Blau, Pink oder Neongrün in den Swimming Pool zu pissen. Doch jetzt war er nur noch müde. Erzähl mir was neues, antworteten seine Augenlider, die schon seit drei Stunden versucht hatten, sich in ihre Ausgangsstellung zurückzuschleichen. Und in genau diesem Augenblick, als Dario sich umdrehte, um hängenden Hauptes in sein Hotelzimmer zurückzukehren, das er sich, in weiser Voraussicht, daß der Abend irgendwo in der Nähe Phantásiens enden würde, um die Ecke genommen hatte, um nicht noch ans andere Ende dieser gigantischen Stadt fahren zu müssen, als er sich schon auf dem Hotelbett liegen sah, sein Körper bläulich flackernd im Angesicht des Flachbildschirms, als die Zellen an seinen Fingerkuppen schon glaubten, die Tür zur Minibar zu berühren, um wenigstens noch nen Whisky oder Gin ins Bett zu zerren, in diesem Augenblick kam hier, on the edge of Phantásien, jemand auf ihn zu, gerade so erkennbar, in der Morgendämmerung und im Licht, das vom Display des Telefons ausging. Ein kurzes Stehenbleiben: Dario blieb stehen, der Typ vor ihm blieb stehen, hob den Kopf vom Display weg. Augenfarbe: braun. Haarfarbe: braun, dazu ein Schnurrbart [klein]. Körpergröße: kleiner als er und schmaler. Auch die Augen wurden nun kurz schmaler, zusammen mit den Lippen, als die Mundwinkel sich leicht nach oben zogen. Das konnte doch nicht sein, dachte Dario Damiano, und er wollte sofort die Hand ausstrecken und berühren, doch wenn er das getan hätte, wäre sicher nichts geblieben, irgendeiner höheren Anordnung nach wäre diese Schönheit, die das Ende der Nacht bereitgestellt hatte, in sich zusammengefallen: die schmalen Lippen und schmalen Augen, der kleine Körper und der langsam die Helligkeit steigernde Morgenhimmel dahinter. Kann doch irgendwie nicht sein, daß so jemand einfach auftaucht, nicht jetzt, nicht in einer Zeit, in der jedes Stückchen Schönheit mit harter, ausdauernder Arbeit verbunden ist! Hinter Dario erhoben die Türwächter wieder ihre Stimme, doch anstatt ihn nochmal in die Wüste der unechten Namen zu verweisen, riefen sie: Menno! Menno Trumbauer! Darios Füße hielten noch eine Sekunde an, doch merkten sie, daß sich die Füße vor ihm langsam von den Grashalmen, auf denen sie standen, lösten, um in Richtung der Rufe zu gehen, der ganze Körper, angerufen durch einen Namen. Das alles hatte nicht länger als sieben Sekunden gedauert, ein kurzes Stehenbleiben und stehend Schauen. Jetzt gingen beide weiter. Zwei männliche Körper, ein Rhythmusgefühl. Eine gute Basis für eine Kooperation. Er beschloß, sich lieber nicht mehr umzusehen. Lieber nicht.

 

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Später würde sich Dario fragen, ob Zeit und Ort und sonstige Umstände dieser Begegnung nicht schon völlig falsch gewählt waren, ob es nicht sein Schlafzimmer hätte sein müssen, ein Zimmer, das ohne ihr Zusammentreffen einen weiteren Strich an die Wand gemalt hätte, für einen weiteren Tag voller Einsamkeit. Oder wäre eine silberne Stadt ein besserer Ort gewesen? Oder die Spitze des Elfenbeinturms, wie Wolfgang Petersen ihn 1984 in der Verfilmung der Unendlichen Geschichte zur Ikone des Fantasyfilms gemacht hatte, um so Michael Endes Glauben zu zerstören, zumindest den Glauben an die Filmindustrie? Hätte in so einer Umgebung ihre Begegnung mehr als sieben Sekunden gedauert? Aber mal ehrlich: Wer kann schon immer alles richtigmachen, gleich in der ersten Episode einer Beziehung, die hoffentlich viele, viele Staffeln überdauern wird? Es schaut immer jemand zu. Und kaum ist dieser intime Moment da, den uns die Liebesromane des 19. Jahrhunderts oder die Handkamera des authentischen Kinos versprochen haben: das Zittern des ganzen Körpers im Angesicht eines anderen, kaum ist dieser Moment da, merken wir, wir sind nicht zu zweit. Alle schauen zu. Vielleicht – so würden diverse Serienblogs schreiben – war dieser Kennenlernmoment der beiden, trotz daß er für sie selbst nur sieben Sekunden dauerte, für den Zuschauer etwas zu lang und bedeutungsschwer, sogar kitschig. Früher, dachte Dario, als er die Augenbrauen mit dem Augenbrauengelstift entlangfuhr, war das Publikum wenigstens nur einen Teil deiner Zeit präsent. Klar, wenn du am Rand der Tanzfläche auf jemanden trafst oder gleich auf seine Lippen, waren natürlich auch Leute dabei, doch nicht alle schauten, und du konntest sogar mitten auf dem Dancefloor sein und dich trotzdem wie im Separée fühlen. Jetzt ist IMMER jemand da, es ist IMMER Konzert, Performance oder Ausstellung, und wenn nicht, dann ist wenigstens ein Blick hinter die Kulissen angesagt. Und auch auf diesen Blick mußt du jederzeit vorbereitet sein, sagte Dario, Rouge auftragend, laut zu sich oder seinem Spiegelbild oder dem, was sich aufspannte zwischen Körper, Spiegelbild und dem Portrait im Personalausweis, das zwei Jahre alt war und gephotoshopt. Wenn gleich Leute zuschauen, wie ich vom Schreibtisch aufspringe, durch den Flur renne, in die Küche, den Wasserkocher anwerfe, ins Schlafzimmer, zwanzig Liegestützen mache, zum Schreibtisch, in die Küche, Tee aufgieße, ins Schlafzimmer, zwanzig Liegestützen, T-Shirt aussuche für den Abend, Schuhe aussuche für den Abend, Frisur aussuche, Tee abhole, an den Schreibtisch, ins Bad, das Spiegelbild checke, durchchecke, abchecke, ins Schlafzimmer, zwanzig Liegestützten mache, an den Schreibtisch, Nachrichten lese, Nachrichten nicht lese, auf irgendeine andere Nachricht warte, wie ich all das mache, und dabei natürlich nur an unsere Begegnung denke, von der ich, weil ich sie nur aus meiner Perspektive gesehen habe, viel weniger behalten konnte als das Publikum, werden sich dann nicht alle fragen, genauso wie ich mich frage?: Wird es mit uns weitergehen? Aber als Dario Damiano das Rouge auf seinen Wangen prüfte, wußte er, daß es sowieso schon zu spät war. Es war immer zu spät. Immer, wenn er jemanden kennenlernte, der was sein könnte, stand schon die nächste Reise an, die Wochen dauerte oder Monate, und die dein und mein Leben jetzt schon davon abhält, ein gemeinsames zu werden. Warte ab, wie das erst wird, wenn wir dann mal zusammen sind. Dann wird es sich noch getrennter anfühlen. Aber bis dahin können wir das verdecken, dachte er und trug etwas mehr Concealer auf die Ringe unter den Augen auf. Für den Fall der Fälle.

Über einen Plan der Stadt verteilt: drei Menschen. Die, bei denen Dario anrufen würde, wenn es ihm schlecht ginge. Oder die, von denen er wüßte, er könnte sie anrufen, wenn es ihm schlecht ginge. Aber im Wissen darum, daß das immer möglich war, würde er es niemals tun. Belästige niemanden mit deinen Problemen, und die Probleme werden aufhören, dich zu belästigen. Freitagabend, einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig, und Darios Körper war nach drei Performances in den letzten vier Tagen schon so früh bereit, die Matratze zu umarmen. Und am Morgen, nach dem Erwachen, würde er sich als erstes fragen: Wann kann ich wieder schlafen? Vor zehn Jahren war der Freitagabend heilig gewesen, war der Samstagabend unantastbar gewesen, beide mit ihren Verheißungen: tanzen, trinken, Rauch atmen, schwitzen, tanzen, trinken, Rauch atmen, küssen, tanzen, trinken, trinken, trinken, rauchen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, darauf hatte er hingefiebert. Und nach zwei Stunden Schlaf war sein Körper aus dem Bett gesprungen, in die Klamotten, in den Bus, um die Probebühne unsicher zu machen und sich dadurch sicherer. Das einzige, was damals noch keinen Sicherheitsbestimmungen gehorcht hatte, war was gewesen? Sein Körper. Inzwischen befolgte der alles, was ihm eingeflüstert wurde. Und dazu gehörte: weniger trinken, weniger Rauch atmen, weniger schwitzen, mehr bewegen, mehr entspannen, mehr schlafen. Über den Stadtplan verteilt saßen Dario und seine drei Freunde an diesem Freitagabend in ihren Wohnungen, und ganz kurz dachte Dario, es braucht nur einen Stups, vielleicht, vielleicht nur einen Anruf von mir, und schon sitzen wir alle gemeinsam da, wie früher.

▲ Virginia: Zu spät, my dear. Ich habe morgen Frühstücksschicht [neun bis siebzehn Uhr] im Café, danach Artikel Korrektur lesen bei der Klatschwebsite, und am Sonntag mach ich Promotion für Langnese.
▲ Dario: Wieder als Nogger Choc?
▲ Virginia: Als Ed von Schleck. Aber alle denken immer, es sei Werbung für nen Drag King Club.
▲ György: Ist was los? Oder warum rufst du um die Zeit an?
▲ Dario: Früher war ich ein Phänomen. Heute bin ich ein Warum-rufst-du-um-diese-Zeit-an?!
▲ György: N andern mal gern, Dario Wario. Ich muß Ende des Jahres dieses Stück fertighaben, und du weißt ja.
▲ Nastassja: Ich wollte heute noch ein Update schaffen, hab die ganze Woche nicht –
▲ Dario: Komm schon, forget the Blogging-Gesamtkunstwerk, heute Abend bist du mal raus.
▲ Nastassja: Der neue Eintrag ist auch schon fertig, über die Handbewegungen von Hexen in Fantasyfilmen. Ich brauch nur noch die Headline.
▲ György: Und ich ne neue Deadline, ohne die wenn ich nicht weiß, ich kann mich bis zu diesem einen Punkt auspowern und nur mit den größten Dosen an Koffein und Amphetaminen aufrechterhalten und dann, sobald das Ding raus ist, sterben, ohne das kann ich nicht mehr leben. Zumindest denke ich das.
▲ Dario: Und ich denk mir oft: Kannst du nicht einfach aufhören, zu denken?
▲ György: Nein, heute nicht.
▲ Nastassja: Heute nicht.
▲ Virginia: Heute wirklich nicht.
▲ Dario: Da ruft man einmal seine Freunde an, um auszugehen, und daran, daß sie einem alle wehtun, merkt man, daß man doch noch so sensibel ist.
▲ Virginia: Sensibilities, Schmensibilities! Meine Hände machen jede Drecksarbeit, obwohl ich Sängerin bin.
▲ Nastassja: Meine Finger sind vom ständigen Posten auch schon ganz unförmig.
▲ Dario: Deine Hände sind die eines Engels, perfekter als auf jedem Bild der Kunstgeschichte, allein diese langen und dünnen Finger. Wenn deine Beine proportional so lang wären, bräuchtest du fünfundvierzig Minuten, um sie zu rasieren.
▲ Nastassja: Super, dann hätte ich gleich das Thema der Woche.

Nastassjas Blog die-zeremonielle-bewegung-der-mädchen.de hatte sich trotz des sperrigen Titels vom Geheimtip unter Freunden mit acht bis zwölf visits per day auf eine fünfstellige Klickrate gesteigert. Und wenn die mal erreicht ist, will die ja auch erhalten werden, nicht? Klar, sagte Dario, wenn du einmal Typen in fünfstelliger Höhe in einer Nacht gehabt hast, gehst du ja auch nicht mehr runter. Nur unter. Haha. Das Prinzip des Blogs war es, jeweils eine konkrete Bewegung, die bei den vielen Arbeiten, die ein Mädchen – egal welchen Alters – verrichtete, an Objekten, an anderen Menschen oder an sich, so konkret wie möglich zu beschreiben. Mit ihrer Art, durch wenige Sätze messerscharf zu skizzieren, wie Mädchen eine spezifische Bewegung als Arbeit ausführten, und mit ihren Fotos, die kleinste Details aus der jeweiligen Bewegungswelt dokumentieren, zeigt Nastassja Kički immer wieder neu, daß nichts an uns mehr wirklich privat ist. Willkommen in der Zeit der Post-Privacy! Hatte vergangene Woche eine große Tageszeitung geschrieben. Jetzt mußt du aufpassen, hatte György, der bei Kritiken der Erfahrenste unter den Freunden war, sofort geschrieben, mit Carbon Copy an Virginia und Dario, aufpassen, daß sich das nicht gleich in deine Texte einschreibt. Man stelle sich vor: Du schreibst darüber, wie sich unsere Welt dieser gigantischen Choreographie hingibt. Daß keine Geste, kein Gewand, kein Orden, kein Ort, kein Wort, kein Schweigen nicht schon zum Ritual erstarrt ist und längst Teil des Protokolls. Und als Belohnung dafür, daß du darüber schreibst, wirst du selbst protokolliert und kannst dich nur noch so bewegen, wie andere denken, daß du dich bewegst. AAARGH!, schrieb Nastassja Kički zurück. Bevor du ganz verzweifelst, antwortete nun Dario, sag Bescheid, mein Glücksdrache kommt dann schon.

Und dann doch. Nach zwei weiteren Wochen, in denen sie alle alles getan hatten, wieder mal, um den Grenzbereich zwischen privat und beruflich weiter zu verwischen, um ihre berufliche Tätigkeit, ihre Traumjobs, noch weiter mit ihrem Leben und ihren Träumen zu verweben, saßen sie im Heimkino von György, wo sie früher oft gesessen hatten, Heimkino als Heimatkino, und sahen jenen Meilenstein der Filmgeschichte, der sie seit ihrer Kindheit nicht losließ, und den sie regelmäßig in den All-Time-Favorite-Listen der Filmkritiker vermißten: Die Unendliche Geschichte 2, USA 1990, Regie: George Trumbull Miller. Kurzer Handlungsabriß: Bastian Balthasar Bux, den Zuschauern wahrscheinlich eher aus der ersten Verfilmung bekannt denn aus Michael Endes Roman, traut sich beim Schulschwimmen nicht, vom Turm zu springen. Daraufhin entwendet er aus Verzweiflung beim Buchhändler Koreander das Buch Die Unendliche Geschichte, das er schon kennt, das aber laut Koreander, wie jede Geschichte, bei jedem Lesen anders ist. Bastian öffnet das Buch, entdeckt, daß viele Seiten leer sind und wird in die sich leerende Geschichte hineingezogen, in das Land Phantásien. Mit dem Auryn um den Hals, einem Amulett, das jeden Wunsch erfüllt, landet er in der Silbernen Stadt. Dort trifft er seine alten Freunde, den Indianer Atréju und den Glücksdrachen Fuchur. Doch es gibt Probleme: Die Kindliche Kaiserin, Herrscherin von Phantásien, kann ihren Elfenbeinturm nicht mehr verlassen, und zeitgleich breitet sich Chaos aus, dem Bastian den Namen: DIE LEERE gibt. Dahinter steckt die Hexe Xayide, die Bastian und Atréju in ihrem Schloß zur Strecke bringen. Daraufhin will Xayide angeblich den Fluch über die Kindliche Kaiserin brechen und mit den anderen zu ihr reisen. Erst gegen Ende versteht Bastian, daß die Hexe ihn immer wieder zum Wünschen animiert, weil er bei jedem Wunsch eine Erinnerung verliert, und je leerer sein Kopf ist, desto leerer wird Phantásien. Letztendlich wünscht er der Hexe ein Herz, überwindet seine Angst, von einer Klippe zu springen, und kehrt als mutiger junger Mann zu seinem Vater zurück, der endlich versteht, daß er sich nach dem Tod seiner Frau um Bastian kümmern muß. Das alles ist in plüschiger Hollywoodästhetik und mit klaren Schwarz-Weiß-Kontrasten inszeniert und wäre nicht der Rede wert, wenn ER nicht wär: Jonathan Brandis, damals vierzehn Jahre alt, rotblonde kurze Haare, Kapuzenpullover, blaue Augen, auf den auch jetzt wieder alle gebannt schauten. Als Teenage Girl, sagte György während des Films, und ich WAR ein Girl, auch wenn ich das natürlich nie zugegeben hätte, habe ich ihn geliebt, er war für mich das, was ich selbst leben wollte: hübsch und trotzdem authentisch, im Scheinwerfer- wie im Blitzlicht. Mmmh! Mmmh! Mmmh! Nickten die anderen drei, und am Ende der Filmnacht, deren Film nicht ganz neunzig Minuten gedauert hatte, stand ein Plan: ein Abend, eine Party, eine Performance, irgendwas, zum Gedenken. An Die Unendliche Geschichte 2? An Jonathan Brandis, der am 12. November 2003 verstarb. Bis zum 12. November 2013 hätten sie nicht mehr viel Zeit, nur ein paar Monate, was für Menschen mit ihrem Arbeitspensum einerseits viel war, denn jeder von ihnen war Hochleistungsgeschwindigkeit gewohnt, und andererseits war das nichts, im Angesicht der Jobs, die anstanden, in einer langen Schlange sich jenseits der Nacht zusammenrotteten, in der Vorfreude, diese vier Körper richtig fertigzumachen. Wie können wir uns wehren? Keine Ahnung. Aber n paar Schläge ins Gesicht versteht jeder. Na komm, sagte Dario, irgendwie schaffen wir das schon, was auf die Beine zu stellen. Oder uns n Beinchen zu stellen, wollte György gar nicht sagen, doch es war schon raus. Ich brauche eh mal ne Pause vom Blog, sagte Nastassja, ich bin SO SÜCHTIG danach, zu posten, ich kann langsam nicht mehr. Okay, I am in – das war Virginia –, für den schönsten Bastian Balthasar Bux, den es je gab! Selbst zerstört siehst du noch besser aus als die meisten von uns, Jonathan Brandis.

–    Jetzt hör auf, irgendwann reichts auch mal. Dürfen wenigstens die Tragödien einfach sein, was sie sind?
–    Dann werden auch wir nur noch die Tragödie verwalten, und sonst nichts.
–    Kommt mal lieber rüber mit Ideen für den Club.
–    Wer hat gesagt, wir machen nen Club?
–    So was wie nen Geheimclub. Der Jonathan Brandis Club.
–    Was für Phantasien kommen einem denn da?
–    Und welche dieser Phantasien können wir verwirklichen?
–    Und wer macht die Vermarktung?
–    Und was passiert mit unseren Phantasien bei der Vermarktung?
–    Klappe. Wir sind Bastian und springen von der Klippe. Klar?

Am Ende der Nacht standen sie zu viert an Györgys Küchenfenster, György rauchte, und Dario sah auf die Häuser, als müßte er irgendwo in der Ferne den Elfenbeinturm der Kindlichen Kaiserin sehen, sah auf diese Stadt, die sie alle vier versammelte und zugleich verstreute, so riesig war sie. Manchmal, beim Blick auf den Stadtplan, sah Dario sich selbst als Zwanzigjährigen, der auf einer Karte nur einen winzigen Teil dieses urbanen Gefüges gesehen hatte, nur ein paar Straßen. Und er wußte nicht, ob das damals Naivität gewesen war oder Optimismus, oder ob die Stadt sich tatsächlich erst in den zehn Jahren, die zurücklagen, so vergrößert hatte und auf einmal diese anderen Sprachen sprach, Bahnhöfe, Flughäfen, Schnellstraßen dazugewonnen hatte, und dennoch in allen Vierteln, wenn man den Ton abschaltete, irgendwie gleich aussah. Eine globale kreative Stadt. Deren Teil sie waren. Und jetzt, einmal, würden sie nicht nur ihr Leben für die Kreisläufe in dieser Stadt zur Verfügung stellen, sondern mit diesem Kreislauf jemandem für kurze Zeit wieder ein bißchen Leben schenken, um dann wieder anders wegzugehen und einzugehen, in das Lexikon, an dem sie alle mitschrieben. Das Lexikon der Trauer.

 

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Es wird langsam herbstlich, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll, schrieb Nastassja Kički Dario per Mail, sieben Stunden später dann denselben Satz in ihrem Blog, im letzten Eintrag vor der großen Pause. Es war kurz vor neun, und wieder mußte Dario in einen anderen Teil dieser Hauptstadt der Kreativen [Creative Capital], wieder einen Teil, in dem er noch nie gewesen war, und von dem das Gerücht umging, daß eine Hälfte noch auf dem europäischen Kontinent lag, die andere auf dem asiatischen, der immer größer wurde. Um neun Uhr performen? WTF? Schrieb Virginia, die selbst schon seit zwei Stunden als Kartenabreißerin in einem Kinderkino arbeitete, in dem Schulklassen jeden Morgen einfielen, als könnten sie nur hier Zucker, Butter und digitale Bilder in sich hineinstopfen. Keine Performance, schrieb Dario zurück, ich muß mich vor Kulissen stellen und nen guten Eindruck machen. Ich wußte, daß du irgendwann anfängst mit dem Modeln! Kommt drauf an, welche Art von Model du meinst, ich sitze in der Jury eines Performancenachwuchswettbewerbs. Jetzt bist du in Jurys, schrieb Virginia noch, und Dario: I hate being a role model, doch Virginia antwortete nicht mehr, entweder die Schicht war schon zuende und sie auf dem Weg zum nächsten Job, woanders, oder sie versuchte, zu atmen, unter einem Haufen Popcorn, den das undankbare Kinderpublikum per gerade im Sportunterricht erlernter Wurftechnik über ihr aufgeschichtet hatte, in Sekundenschnelle.

Das Bühnenbild des Performancenachwuchswettbewerbs: eine – vielleicht freiwillige, vielleicht unfreiwillige – Reminiszenz an die Filmbauten aus Die Unendliche Geschichte 2, damals entworfen von Ludwig Valentin Angerer, also known as: Angerer der Ältere, dessen Designs der Silberstadt und des Schlosses Horok, das aussieht wie eine Hand, sogar mit einem Credit auf einer Single Card im Filmabspann gewürdigt worden war, auch wenn die Realisierung der Entwürfe in der Bavaria Film dann Götz Weidner erledigt hatte. Was für nen Scheiß man sich so merkt, dachte Dario, der nicht von ungefähr dazu kam, über das Stage Design der Kulissen nachzudenken, in denen vor ihm und den drei anderen Jurymitgliedern gerade eine Gruppe von fünf Tänzern dabei war, sich in eine Lichterkette einzuwickeln, in Ultrazeitlupe, wobei unklar war ob die Tänzer – alle mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, wie die Sprecherin der Gruppe, eine über zwei Meter große Argentinierin noch vor der Performance losgeworden war – nun tatsächlich über Häuserschluchten gearbeitet hatten, was zumindest der Titel: Häuser ohne Schluchten suggerierte, oder ob es um Liebesbeziehungen ging. Dario Damiano hätte diese Ambivalenz eigentlich mögen müssen und sagte sich: Eigentlich müßtest du das mögen!, doch es half nichts, immer wieder glitten seine Augen von der verkrampften Verwicklungsaktion ab und wollten das Bühnenbild sehen, die Silberstadt, die, nicht weniger beeindruckend als im Film war und doch, trotz einer gewissen Monumentalität, feiner, zumindest feiner gestrickt, ja, ganz wörtlich gestrickt, nämlich aus silbernem Lametta. Lamettavorhang, Showbiz, Aufstieg und Fall von Stars. Das Bühnenbild nahm vorweg, was hier geschehen würde: Irgendeine Performance würde gewinnen und ihr Urheber damit den Schritt in dieses große Performance-Business machen, das sich vor allem eins zur Aufgabe gemacht hatte: die Menschen in ihm, als Verdichtung unterschiedlicher Beziehungen, selbst zu Business zu machen.

Am Ende des Tages, der sich wie mehrere anfühlte, in den biologisch jungen Knochen Darios, die aber, vielleicht gerade weil sie wußten, daß sie jung waren, die Last ganzer Jahrhunderte in sich trugen, am Ende dieser unendlichen Geschichte von vierzehn Stunden, inclusive einer Stunde Diskussion, überreichte Dario als Jüngster in der Jury den Preis an eine junge Österreicherin mit ungarischem Background namens Philomena Császár, die sich als Künstlerin Renée Zellweger nannte. Ihre Performance hatte darin bestanden, sich eine Kilotafel Schokolade in den Mund zu füttern und dann, mit dem Brei im Mund, eine Liste aller Antisemiten in der aktuellen ungarischen High Society und aller Top-Manager in der aktuellen österreichischen Economy zu brüllen, ja, BRÜLLEN! Die Ohrenstöpsel, die der Jury am Morgen ausgehändigt worden waren, waren endlich zum Einsatz gekommen. Im Blitzlichtgewitter, an das sich nicht nur seine Augen nie gewöhnen würden, sondern vor allem seine Nase nicht, die bei sehr hellem Licht immer dazu neigte, einen Niesreiz zu empfangen, verlas Dario eine kurze Erklärung der Jury, die von den Geheimnissen der Ökonomie in der Performance sprach, und überreichte Renée Zellweger den Strauß, vorsichtshalber wieder mit Ohrstöpseln geschützt, weswegen er nicht hörte, daß derjenige, der für das Foto noch neben ihn bugsiert worden war, ihm ins Ohr flüsterte: Am geheimnisvollsten ist immer die Ökonomie, Schätzchen! Und was hätte es geändert, wenn dieser Satz ins Innere von Darios Ohr gedrungen wär? Erst, als auch noch die anderen Jurymitglieder mit aufs Foto kamen und die Fotografen sie wieder neu gruppierten, nahm Dario wahr, daß jemand neben ihm stand, und als er den Kopf drehte, war da, na, wer wohl?

Nach der Erscheinung, die er im Frühjahr in jener ruinierten Partynacht gehabt hatte, war Dario Damiano kein Mittel zu billig gewesen, um diese Erscheinung wiederzufinden, die den nicht ganz so herrlichen Namen Menno Trumbauer trug. Google wußte nichts, Kontaktje wußte nichts oder nicht mehr, aber hatte wohl mal ein Profil von ihm besessen, und eine Maillawine, die Dario in die Weiten der Creative Capital schickte, um irgendwo jemanden zu finden, der sagte: Den habe ich gekannt, Mista, is nur schon vor Jahren aufs Land gezogen, um dort als kleiner Palazzo einen sehr langen Lebensabend zu verbringen, auch diese Lawine hatte jede Hoffnung unter sich begraben. Und Nastassja hatte immer wieder mit Cinderella angefangen und über die zeremonielle Bewegung gesprochen, mit der ein Mädchen seinen Fuß in den Schuh zu schieben hat, den der Prinz ihr hinhält. Und jetzt stand das perfekte Mädchen hier, klein, schmal, mit rötlichen Wangen, und als die Fotoapparate wieder gewitterten und beide nach vorne sehen mußten, erlaubte sich Dario einen kurzen Seitenblick, der ein Dutzend der vielen hundert digitalen Fotos, die gerade geschossen wurden, unbrauchbar machte. Im Blitzlicht sah er die rötlichen Wangen und einen leichten silbernen Schimmer der Haut, vor der Silberstadt. Minuten später wußte er, daß das kein Zufall war. Das hier, Dario, sagte ihm Gretchen Schlusser, die Jurychefin und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Chefkuratorin diverser Festivals, das ist übrigens der, der uns diese City aus Silber gezaubert hat! Noch bevor sie einen Namen sagen konnte, war Gretchen Schlusser schon wieder weg, um Schützenhilfe zu leisten, sagte sie und meinte damit: beim Radiointerview, das die Gewinnerin des Wettbewerbs gab, danebenstehen und notfalls die guten Antworten besser machen und die besseren Antworten zu den besten, die man geben konnte. Ich kuratiere alles, was um mich herum passiert, O- Ton Gretchen Schlusser, Wochen zuvor, in einer Kunstboulevardzeitschrift.

–    Haben wir uns schon mal gesehen?
–    Haben wir. Aber war es hier, in der Silver City, oder im Inneren einer Hand, die sich erst, als wir zusammen aus ihr geflohen waren, als Schloß entpuppte?
–    Du weißt nicht, wie lange es gedauert hat, das aus Lametta zu stricken.
–    Und du weißt nicht, wie schwach mich Männer machen, die stricken.
–    Deshalb tue ich ja so, als hätte ich selbst gestrickt, während es in Wahrheit meine Assistentinnen waren. Ah, by the way: Du weißt nicht, wie schwach mich Männer machen, die die Silver City kennen.
–    Machst du Witze? Ich LIEBE Die Unendliche Geschichte 2!
–    Und ich liebe Jonathan Brandis.
–    Also hab ich keine Chance.
–    Dochdoch. Meine Adresse, hier. Wenn du vor zwölf da bist, lohnt es sich noch.
–    Och.

Um jenes phantastische Wesen, von dem hier Bericht erstattet werden soll, zu berühren, braucht es einige Tricks aus der Zauberkiste, dem Liebesratgeber oder dem Kriegsgeschehen. War es nicht die Blase der Perfektion, die dieses Wesen umgab? Jedenfalls kam Dario Damiano nicht umhin zu riskieren, die Blase zum Platzen zu bringen: Um kurz nach zehn vor der Tür stehend, konnte er den Namen Trumbauer auf keiner Klingel finden, so daß er, mit angehaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen, eine Klingel nach der anderen drückte, immer froh, wenn keine Stimme aus der Gegensprechanlage auf das Klingeln zurückschrie: Woas wolln’S, um die Zeit?, dann auch wieder nicht froh, wenn die Gegenseite schwieg: Was war, wenn dort oben ein zitternder Körper saß und sich nicht traute, den Tür-auf-Knopf zu drücken, oder – noch schlimmer – gar nicht wollte und längst auf einem honigmelonengroßen Bizeps von, sagen wir, Conan, dem Barbar, schlummerte? Schließlich doch das Surren, die Treppen rauf, die Tür auf, Schuhe aus, kleine Treppe in die Maisonette hoch, soso, und das hier gehört dir also, ja? Ja. Ah. Und schon hatte Dario den Namen, den er gedrückt hatte, um hier heraufzukommen, vergessen. Vielleicht hatte er sich, ohne es zu wollen, nichts mehr gewünscht, als daß die Tür aufgehen würde, und Auryn hatte ihm den Wunsch erfüllt, aber den Namen dessen, den er sich gewünscht hatte, im selben Moment aus seinem Kopf gezogen, in eine kleine gläserne Kugel verbannt und dann zu den anderen Erinnerungen verfrachtet, die ihm schon gestohlen worden waren und die zusammen in einem riesigen gläsernen Modell seines Kopfes warteten, auf das Ende einer Zeit, in der die Namen so viel zählen.

–    Bist du deppert? Ich heiß nicht Menno Trumbauer, merkt man doch sofort, daß das erfunden ist!
–    Und das sagst du jemandem, dessen Name NICHT erfunden ist, der aber immer so wirkt. Also, wie heißt du?
–    Rok. Rok Ciril Error.
–    Ein Name, der allein schon Verführung ist.
–    Aber wenn ich ausgehe, bin ich eben Menno Trumbauer, und das einzige, was mich interessiert, sind das Auto, das ich mir kaufen will, und meine Freundin, die mich aber schon lange nicht ranläßt.
–    Oha, ich ahne, wohin das zielt.
–    Und wenn die Typen das gehört haben, zerren sie mich quasi schon ins Bett. Als Menno hab ich Pause von dem, was ich machen müßte.
–    Und das wär?
–    Davon, dir zu erzählen, wer ich bin.

Früher war es in der Regel so, daß die Persönlichkeit des Künstlers erst interessant wurde, nachdem sein Werk sich bereits durchgesetzt hatte. Heute muß jeder Anfänger lernen, über seine Arbeitsprozesse und sein Werk zu reden, sich und seine Kunst öffentlich darzustellen. Auch wenn hier der eine die Öffentlichkeit für den anderen war, Dario für Rok, Rok für Dario, oder beide für das zwischen ihnen, mußten sie über sich reden. Ich bin Atréju, und du bist Bastian Balthasar Bux, sagte Rok, und Dario erwiderte, sich imaginären Schweiß von der Stirn wischend, von dem er dann merkte, er war echt: Puh, dann habe ich es schon geschafft, dein Jonathan Brandis zu sein. Aber mein Vertrauen ist noch nicht zur Gänze dein. Also los, sagte sich Dario Damiano, du machst doch Kunst, und wie jeder junge Künstler hast du schon tausenden von Online- und Offlinemagazinen Rede und Antwort gestanden und Gegenrede und Gegenantwort, und hast dir schon hunderttausendmal Gedanken über deine künstlerische Position gemacht und darüber, wie du sie versprachlichen kannst, eigentlich schon, bevor du überhaupt wußtest, welche Kunst du machen würdest. Also: rede! Ob du es glaubst oder nicht, aber gerade mache ich mit meinen Freunden zu Jonathan Brandis ein riesengroßes Projekt, und zwar – Dario stockte und hörte den Nachklang seiner Worte, vor allem: riesengroß und: Projekt und sah Rok Error an und konnte sich immer noch nicht an den Namen auf dem Klingelschild erinnern. Hatte da Error gestanden, oder war, daß er sich jetzt daran zu erinnern glaubte, der Fehler im Erinnerungssystem? Und wenn Rok Error nicht Rok Error wär, und das alles um ihn herum Show? Dieser schmale Körper vor ihm, die quadratischen Sitzgelegenheiten, die, als er nochmal hinsah, sowieso verdächtig nach Fernsehausstattung aussahen, die ganze für einen Freelance-Bühnenbildner viel zu chice Maisonettewohnung, wenn all das inszeniert wäre, um ihn, Dario Damiano, vor einer versteckten Kamera die klischéehaftesten Sprüche über seinen Job als Performance Artist zu entlocken? Denen ist jedes Mittel recht, knurrte Dario, ohne zu wissen, wen er meinte. Aus Reflex, da er tagtäglich alles mögliche mit anderen teilte, hatte er diesen Gedanken übrigens im Reden gedacht, und Rok Error, dessen Körper auf der quadratischen Sitzgelegenheit thronte, mit einer feierlichen Festigkeit, ließ diesen Körper nun im Lachen erbeben und sagte: Du könntest recht haben, schließlich bin ich Profi, was gespielte Privatkommunikation angeht, einen besseren Job macht nur Brigitte Nielsen in ihren diversen Doku Soaps. Nach weiteren sechsunddreißig Minuten hoben Rok und Dario zeitgleich ihre Bierflasche, leerten sie, stellten sie zurück. In diesen sechsunddreißig Minuten hatten sie die wesentlichen Stichpunkte ausgetauscht: Dario, einunddreißig, Theater in Kindheit und Jugend, Hospitant bei Regiekollektiv Neo Sincerity mit einundzwanzig, Theoriebesessenheit mit dreiundzwanzig, Rückkehr des Körpers mit fünfundzwanzig: Sport, Stimmtraining, Improvisationsfähigkeit, Hineinwachsen in die regionale, nationale, dann internationale Performanceszene, nicht unanstrengend, aber mit Freude, und wenn es nur zweihundert Leute sehen und davon zwei es geliebt haben, ist das schon was. UND: Rok, siebenundzwanzig, Vater Filmproduzent, Mutter Malerin, als Kind Werbestar, als Jugendlicher auf BWL eingestellt, mit zwanzig dann doch Kunst, Bildhauereistudium, währenddessen die Regeln des Marketings selbst beigebracht, Learning by heart by doing what your heart says, immer online: auf allen Vernissagen, in allen Premieren und bei Kontaktje, Büro gründen, zu zweit, Ausstattung für die ganz große Bühne, Oper, Theater, PR-Events, konzipieren, organisieren, deligieren, nicht alles so einfach, aber es macht Spaß. Und als Nachklapp: Spaß, professionell zu sein.

–    Und wieso bist du Single? Wenn ich hier leben würde, in diesem Teil der Stadt, hätte ich längst zugeschnappt.
–    Na, ich laß mich nicht schnappen.
–    Ich würde dich schon fest genug halten. Oder nicht ich, aber Fuchur.
–    Wenn ich dir gehören würde, würde ich niemals nur dir gehören.
–    Wie auch? Die Schönheit ist für die Augen aller da.
–    Sag das nochmal. Laut!
–    DIE SCHÖNHEIT IST FÜR DIE AUGEN DA!
–    Nennt man das: laut in deiner Welt, Bastian?
–    Scheiße.
–    Hab ich was falsches gesagt?
–    Nein. Aber hier im Script steht: Auf Dario Damianos Oberlippe erscheint, nach langem Warten auf den perfekten Auftrittszeitpunkt: eine Fieberblase.
–    Ist die echt, oder hast du sie dir aufgeschminkt?
–    Warum sollte ich?
–    Um zu zeigen, daß du busy bist und ergo richtig dick im Biz?
–    Reichen da die Augenringe nicht?
–    Checkcheck.
–    Warte, ich wünsch mir die Fieberblase weg.

Doch für diesen einen Abend waren alle Wünsche aufgebraucht, und Rok Error wollte nicht riskieren, daß Dario seine wichtigsten Erinnerungen opferte, nur damit das geschähe, was sowieso geschehen würde. Aber nicht mehr heute, ich muß um zwölf im Bett sein. Komm schon. Ich weiß nicht. Roks Lippen, auf die er zeigte, um zu beweisen, daß sie für Fieberblasen anfällig waren. Roks Wangen, die noch rötlicher leuchteten. Und nichts schien Dario Damiano, an der Wohnungstür stehend, nach einer halben Umarmung, der Fieberblase wegen, weiter weg als der Körper vor ihm. Deine beschissene Gewohnheit, alles als unerreichbar zu sehen, dachte Darios Kopf, der nach diesem Tag voller Performances den Preis nochmal neu hätte vergeben können, an Rok Ciril Error für sein Piece: Das Erotische der Keuschheit. Darios rechtes Auge zwinkerte Roks linkem Auge zum Abschied zu, das nicht zurückzwinkerte, sondern wieder auf die Lippen ablenkte, die, Fieberblasen fürchtend, diese Worte sprachen: Mit fünfzehn habe ich meinen ersten Jungen geküßt, mit zitternden Knien. Ich hatte damals ein großes Faible für Make-Up, also hing ich, wenn mein Vater produzierte, beim Maskenbildner rum und da waren dann auch die Kinder von anderen Filmleuten, unter anderem er. Haakon Haakonson. Wir ließen uns Narben modellieren und Wunden aufmalen, was Zwölfjährige eben so machen. Auf einmal waren wir fünfzehn und hingen immer noch zusammen, Haakon Haakonson mit Verbrennungen zweiten Grades, ich mit Schnittwunden, und als der Maskenbildner fertig war und draußen rauchte, sahen wir uns an, und ich machte die Augen zu und wartete, daß seine Lippen in meine ein paar Wunden rissen.

–    Dann warte drauf, was MEINE Lippen tun. Werden wir uns wiedersehen?
–    Werden wir. Es geht immer so schnell bis zum nächsten Wiedersehen in dieser Metropole, die überall ist.
–    ÜBERALL.

 

▲ ▲ ▲

 

Sogar in den Wolken setzte sich diese Megastadt fort, in die Dario und seine Freunde hineingewachsen waren, voller Glück, im Ausweis neben dem Portrait, das Tag für Tag jünger wurde, den Namen der Stadt als Geburtsort ins Plastik eingedrückt zu sehen, Plastik, das randvoll war mit Daten. In den Wolken setzten die Freunde in den Wochen, die folgten, ihre Gespräche fort. Und auch wenn sie selbst in ihren Wohnungen saßen oder in irgendeinem Café oder, wie Virginia Rest, im Büro der Hotline einer katholischen Stiftung, auch wenn sie von dort aus ihre Suchergebnisse zu Jonathan Brandis in die Wolken schickten, wo sie dann später aufeinandertrafen und über diese Ergebnisse sprachen, waren diese Wolken sehr weit weg, vielleicht nicht mal über dem geographischen Gebiet der Stadt. Der Versuch, den sie gestartet hatten, war klar: So viel wie möglich über Jonathan Brandis zusammenzutragen für die Besuchern des Forever Jonathan Brandis Clubs – ja, inzwischen hatten sie sich drauf geeinigt, nicht nur für sich diesen Club zu gründen, sondern ihn ganz real, als Ort, als Versammlungsmöglichkeit, in die Welt zu setzen und für eine Nacht, die vom 11. auf den 12. November 2013, eine Art von Ausschweifung zurückzurufen, die sie geliebt hatten und die verloren gegangen war auf dem Weg zu diesem einzigartigen Ziel: von ihrer kreativen Arbeit leben zu können.

▲ Dario: Hat jemand von euch die Werbeclips gefunden, in denen Jonathan als Kind auftrat?
▲ György: Hier ein Video, eine Ausgabe der Jon Stewart Show von 1994: Für zehn Dollar ißt Jonathan vor Kameras, Moderator und Publikum eine Grille.
▲ Nastassja: Jonathan Brandis: The Interviews. Der von ihnen angeforderte Artikel ist zur Zeit nicht im deutschen Store erhältlich.
▲ Virginia: Soll ich Sea Quest DSV über den Server der Katholiken runterladen?
▲ György: Gern alle Staffeln!
▲ Dario: Also auch die dritte, in der die Serie dann Sea Quest 2032 heißt?
▲ Nastassja: Hauptsache, Jonathan ist dabei, als Supercomputerhirn Lukas Wolenczak.
▲ Virginia: In diesem Interview bei Bravo TV 1993 sagt Jonathan: Mein größtes Trauma war es, als mein Lehrer eines Tages reinkam und sagte: So, heute machen wir keinen Unterricht, sondern gucken die Soap, in der Jonathan spielt.
▲ Dario: Wer weiß was von dieser Soap?
▲ Nastassja: Ich kenne nur Jonathans Gastauftritte in den folgenden Serien: Full House, Wer ist hier der Boß?, Blossom, Wunderbare Jahre und Familie Munster.
▲ Virginia: Nicht in Der Prinz von Bel Air, obwohl er später mit Tatyana Ali, der Schwester des Prinzen, zusammen war.
▲ Dario: Eine der wenigen interracial relationships, die Hollywood sah.
▲ György: 1989 sagt er: Ich wechsle gern von Rolle zu Rolle. Ich spiele viel Dramatisches, aber auch Komödien. Ich probiere gern Verschiedenes, um herauszufinden, wo meine Stärken liegen. Ich suche noch nach meinen Stärken.
▲ Nastassja: Dreizehn Jahre später ist er offenbar nicht stark genug, oder woran liegt es, daß sein Part im Lagerfilm Hart’s War neben Bruce Willis rausgeschnitten wird?
▲ Dario: Vielleicht an Bruce Willis?
▲ Nastassja: Oder am Delphin?
▲ György: Welcher Delphin?
▲ Nastassja: In der Regis and Kathy Lee-Show, einer Art US-ZDF-Fernsehgarten, sagt Jonathan 1995: Der Delphin bei Sea Quest bekommt mehr Fanpost als ich.
▲ György: Hat er deshalb –?
▲ Dario: Ein Freund sagt nach seinem Tod: Lately, Jonathan was working on some independent films, but he thought his chance at stardom had come and gone.
▲ György: I am gone, too: Ich muß kurz zu nem Treffen für was anderes.
▲ Nastassja: Ich muß mich mal bewegen.
▲ Virginia: Und bevor ich aus allen Wolken falle, weil die Nonnen mich wegen privater Geschäfte während der Arbeitszeit aus dem Stiftungsbüro jagen, hier noch ein Link: A couple tribiute. Hochgeladen von Julia211291 am 02.06.2011. A couple tribute to both of my favourite past actors – Jonathan Brandis and James Dean. Actually it was made when I had another YouTube username (jstyle2191). This video was just re-uploaded. Please enjoy it! Music: Enrique Iglesias – Now that you’re gone.

Dieses Gespräch hatte sich mit großen Pausen über Wochen hingezogen, und Dario versuchte zwischenzeitlich immer wieder, irgendeine Besprechung, eine Locationbesichtigung oder sonstwas in den Teil der Stadt zu legen, in dem Rok Error wohnte. Immer, wenn sie sich schrieben, war es so, daß Dario sich langsam vortastete, bis zu dem Punkt, an dem Rok bereit war, über das zu sprechen, was zwischen ihnen war, und dann legte Dario vor, optimistisch, zumindest, was seinen Teil des Begehrens anging, doch immer wieder zog Rok sich zurück, und Dario wußte nicht, ob die Scheu echt war oder gespielt oder beides, ob Rok Error sich darin eingerichtet hatte, von unanständigen Anträgen bedrängt und doch allein zu sein. Umso mehr wollte Dario den Jonathan Brandis-Gedächtnis-Club aufmachen, und eines Nachts, kurz nach zwei, über zwei Stunden, nachdem das elektronische Gespräch mit Rok, wie so oft, von dessen Seite unterbrochen worden war, lag Dario im Bett und wußte: Den Club dürfte es nicht nur eine Nacht geben, er müßte jede Nacht neu eröffnen, immer wieder neu und immer wieder anders, und ich könnte tagsüber aus allen Materialien, derer ich habfhaft werden würde, ein neues Phantásien bauen, so wie Bastian Phantásien nach der Erledigung des Nichts neu aufbauen konnte, mußte! Am nächsten Tag, nach nur vier Stunden Schlaf, zwei Stunden Fitnesstraining, einer Stunde Dampfbad, in dem er eingeschlafen war, checkte Dario Damiano seinen Kontostand, der, ob dessen, was in den vergangenen Tagen raufgekommen und was abgegangen war, nicht besonders vertrauenswürdig aussah, und Dario wünschte sich, er könnte sagen: Sorry, nich mein Typ!, und ein anderer Kontostand würde irgendwo aufspringen und sagen: Wie wärs dann mit mir? Was war mit den Finanzen los? Während Dario an Logoentwürfen, Audiospuren, Materialexperimenten für den Club gearbeitet hatte, hatten sie wieder mal geleuchtet, so stark, daß er sich nicht hatte entziehen können. Während er arbeitete, warteten in einem Fenster immer die Waren darauf, daß seine Augen sie verschlüngen, immer wieder, so oft und so lange, bis die Augen an den Rest des Körpers dieses unwiderstehliche und unwidersprechbare Signal aussandten: DU WILLST! DAS! JETZT! So oder so, das Geld war weg, die neuen Klamotten, die er für ein Wiedersehen mit Rok bestellt hatte, lagen unberührt im Schlafzimmer, er würde sie nicht anrühren, wenn sie schon jeder anklicken konnte, sollten sie wenigstens, wenn sie hier lagen und mit ihm gemeinsam warteten, zu ihrem Recht auf Heiligkeit kommen, sie würden unberührt bleiben, bis die Hände von Rok bereit wären. Und er hatte auf einmal, wie das manchmal kommt, innerhalb einer Mikrosekunde, Angst. Die Angst, überhaupt nicht mehr lieben zu können, jedenfalls nichts, was keine Ware war. Die Angst, in der Warner Bros. Movie World in die Attraktion: Die Unendliche Geschichte zu gehen, zwischen riesigen Büchern die Kindliche Kaierin zu sehen, die dich bittet, Phantásien ein weiteres Mal zu retten, dann in ein Boot zu steigen und in einer Art Wildwasserbahn an den Filmfiguren vorbeizufahren, um am Ende den Elfenbeinturm wieder strahlen zu sehen, mit nassen Klamotten und Schuhen, aus denen ein ganzer Atlantik läuft, und wieder einmal gelernt zu haben, daß die Welt nur durch Konsumieren gerettet werden kann. Ticket lösen, ins Boot steigen, Welt retten. Was solls, dachte Dario, irgendein Geheimnis wird es sicher noch geben, trotz allem, was mir in den vergangenen Jahren in Sachen Liebe geschah.

Den Tag anders aufteilen: Für ein paar Stunden an Rok Error denken. Für ein paar Stunden am Forever Jonathan Brandis-Club basteln. Für ein paar Stunden neue Sachen anleiern, als eigener PR-Agent. Bist das doch gewohnt, sagte György am Telefon, das gehört schon seit langer Zeit zu dir, der du irgendwo zwischen beruflich und privat existierst, nirgendwo sonst. Nicht so schnell, Freundchen, widersprach Dario, aber eher aus Reflex, er konnte dem eigentlich nicht widersprechen, denn er war das, er war wider Willen Impresario seiner selbst. Dabei ist der einzige, mit dem ich was unternehmen will, da draußen, in seinen Gemächern. Denk nicht nur an Liebe, sagte György. Ich denke an UNS, oder warum bastele ich hier am Logo unseres Clubs? Shit, ich wollte dir ja noch den Text – Ja, sagte Dario, haste noch nix? Wir sind dabei, was anderes zu gründen. Wer ist wir? Ein paar Autorenkollegen und ich, wir wollen eine Art – wie soll man sagen, früher hätte man so was wohl Gewerkschaft genannt – gründen, wir suchen noch danach, wie wir es nennen können, jedenfalls eine Gewerkschaft für Kreative oder ein Kommité. Wäre doch nicht schlecht, sagte Nastassja, als Dario ihr das berichtete, kann man da auch Rechtsbeistand kriegen? Gegen Dumpinglöhne, klar, aber du verdienst doch ohne Ende über die Werbung!? Ich verdiene gerade gar nichts, wenn mein Blog auf Eis liegt, erwiderte das Blogwunder Kički, und außerdem hat irgendjemand meine Pause genutzt und einen ähnlichen Blog aufgemacht: die-herrlichen-moves-junger-girls.de. Ich seh gerade, heute der Eintrag: Vibration Is Life! Bevor du denkst, daß die Trittbrettfahrerin noch mehr Porno bringt als ich: Es geht um Vibrationstraining, um mühelosen Fettab- und Muskelaufbau. Und jetzt willst du zurück an die Front? Ich MUSS, es tut mir leid, Dario. Und am selben Tag, in den Abendstunden, ein Spaziergang mit Virginia, ein niedergeschlagener Spaziergang, weil sie wieder einmal einen ihrer Jobs verloren hatte, ganz klassisch, Callcenter. Weil die beschissene Chefin auf High Heels ihren Kaffee über mein Computerkeyboard kippte und ich den Anruf, den einzigen, bei dem ich mal weitergekommen war, eine demente Siebenundachtzigjährige, der ich fast was aufgeschwatzt hatte, nicht zuende bringen konnte, und die Chefin behauptete, ich wäre ihr parallel zum Aufschwatzen mit dem Drehstuhl in die Hacken, und alle Kollegen drumherum bekamen es mit und wußten, daß das Bullshit ist, und niemand sagte was. Vielleicht solltest du Györgys Kreativgewerkschaft beitreten. Wieso kreativ, wenn es wenigstens DAS wäre, aber ich bitte meine sogenannten Kollegen ja nur um das, worum so viele Leute auf den Datingportalen in ihre Profilen bitten: Please have a face! Zeig wenigstens ein bißchen Gesicht! In dem Moment kam eine Frau auf sie zu, die Flyer für ein Frauenfitnesscenter verteilte, drückte Virginia einen in die Hand, nicht ohne die Hand unnatürlich lange zu berühren, während sie sich wieder abwendete, und Dario rief ihr hinterher: Ey, ich bin auch ne Frau und in einem anderen Körper gefangen, wieso darf ich nicht bei euch trainieren? WEIL, sagte die Fitnessfrau nur, über die Schulter. Principles, Schminciples!, rief Virginia. Und Dario dachte an seine Prinzipien, daß er jemanden wie Rok Error, der immer wieder nach vorn ging, um dann zurückzuziehen, eigentlich gar nicht mehr gewollt hatte, und daß es nun nicht anders ging, und er wußte nicht, warum. Er gab Virginia, die den Flyer las, ein Fuchur-Glückskeks-Eis in die Hand, nahm selber das farblose Bastian-Balthasar-Bux-Eis von der Theke der Eisdiele, und als sie Richtung Fluß gingen, blieb Dario stehen und fragte Virginia Rest: Was ist eigentlich lächerlicher? Jemandem, dem man nur ein paar Augenblicke gegenübersaß, und den man nicht berühren konnte, weil er dann zu Stein erstarrt wäre, so jemanden mit aller Kraft zu vergessen und nie wieder an ihn zu denken, oder genau DAS alles zu vergessen und ihm zu sagen?: Ich würde gern meine Erschöpfung mit dir teilen. Versuchs mal mit Berühren, sagte Virginia, und wenn er zu Stein wird, kannst du immer noch beschließen, unterhaltsam zu leben.

 

▲ ▲ ▲

 

Ich gehe auf alle Eröffnungen, flüsterte Rok Error Dario Damiano zu, zog ihn weiter, an seiner Hand, wodurch die Nervenzellen in Darios robustem Körper in eine Wippbewegung gerieten, als wäre er ein Hochhaus in Seoul, von ein paar Dutzend Teilnehmern einer Aerobicübung in Schwingung gebracht, nur daß Roks Hand, seine Finger, die Spitzen seiner Finger schon reichten. Wenn ich nicht immer überall wäre, würde ich auch niemanden kennen, flüsterten Roks Lippen nun, von denen Dario hoffte, daß sie seinen heute noch Hallo sagen würden. Jetzt aber erstmal die Reden, wie es sich für eine Vernissage gehört. Gerade sprach die Chefin des Kunstvereins, in einem Kleid, das es schaffte, Gold, knallige Farben und Dschungelmuster zu kombinieren, und deren Lieblingssätze, wie Dario von Roks Telefondisplay ablas, auf das er sie getippt hatte, um sie nicht laut sagen zu müssen, folgende waren:

A    Fünfzig/fünfzig? Auf welchem Planeten lebst du? Wir machen fünfundneunzig/fünf, und frag jetzt nicht, für wen fünfundneunzig und für wen fünf!

UND

B    Stell dich nicht so an! In der Disco geht man auch, wenn man abgewiesen wird!

Später sprach die Künstlerin der Ausstellung, die mit ihren Science-Fiction-, Horror- und Fantasy-Referenzen eine von Darios liebsten war, was Rok entweder geahnt hatte oder sogar gewußt, einfach so, oder durch eine komplizierte Suchmaschinentechnik herausgefunden. Belphoebe Bergfalk, die Künstlerin, las einen kurzen Text vor, der rigoros die üblichen Dankeschöns und Schleimereien außer Acht ließ und sich wie eine Spielanleitung anhörte für ein Abenteuerspiel, woraufhin sie hinter einem weißen Seidevorhang verschwand und die Mitarbeiter des Kunstvereins sich gegenseitig in die Quere kamen: Die einen verteilten Champagner, während die anderen versuchten, die Besucher in Zweiergruppen einzuteilen, um sie in eine Installation zu schicken, die, riesiggroß – neben einigen Müllhaufen, die wohl Reste der Installation waren –, den Hauptteil der Ausstellung ausmachte. Wollen wir nicht rein?, fragte Dario, und Rok nickte, drückte ihm ein Glas in die Hand und sagte: Sobald wir ein paar Leute getroffen haben. So lernte Dario eine seiner Kolleginnen kennen, wie Rok sie ankündigte, und wieder machte Dario es falsch und dachte bei der Vorstellung mehr an seinen Namen, als auf den seines Gegenübers zu achten, aber das machte der Schauspielerin nichts aus, die, kaum daß sie gefragt hatte, was genau Dario für Performances machte, lieber von ihrem eigenen Karriereknick nach dem ersten Festengagement und einem mittelmäßigen Tatort erzählte: Wie es ihr immer schlechter gegangen sei, wie sie sich schließlich kaum noch getraut habe, jemanden zu verführen, wie alles, was ihr untergekommen sei, auf einmal in Beziehung zur Größe ihres Hinterns getreten sei, aber irgendwann hätte sie durch ihre Verzweiflung eine Marktlücke entdeckt: Schauspieltraining für Pornostars, ja, seitdem es noch mehr Pornos gäbe, wollten die Leute auch noch mehr Qualität, und irgendwie müßte man so einen Dialog ja auch glaubhaft rüberbringen. Neben ihr stand Modest Ivanov, Grafikdesigner, sensibel für jedes kleine Quentchen Ästhetik, flüsterte Rok, weshalb er auch keine Katze als Haustier hat, sondern einen Tukan. Einen Scheißtukan?, fragte Dario, als der kleine Körper Rok Errors seinen Körper weiter an den Champagnergläsern vorbeidirigierte. Er lernte noch Ariel Zilberschlag kennen, dessen Band: Erst Ausschlag, dann Anschlag! vor Jahren ein Hitalbum herausgebracht hatte, Hit zumindest in der Sparte Independent, die es inzwischen so gut wie nicht mehr gab. Vieles auf den ersten beiden Alben hat sich einfach so ergeben, aber jetzt ist es plötzlich mein Job, Songs zu schreiben, bin ich jetzt so ein fucking Fließbandsongarbeiter?, fragte Ariel, wobei er Rok anschaute, aber eigentlich alle in der Runde adressierte. Neben ihm ein Fotograf, zwei Meter groß, lange, braune Haare, dunkle Augen, Ozzy-Osbourne-T-Shirt, ein Halbgott in Tarnung, der Dario gerade erzählte: Die Kunstschule hab ich geschmissen. Die Lehrer zwangen mich, Töpfe und Tonvasen zu bemalen, aber ich sah etwas anderes, etwas Übersinnliches, doch niemand verstand mich. Und eine isländische Schönheit, die einfach nur Frigg hieß, Geschlecht: unklar, erklärte einem Dicken mit unglaublich langem schwarzen Bart: Allein die Energie von Metatron ist unglaublich, es wird sich eine Tür öffnen, eine Tür zum Glück! Was er beantwortete mit: Kenn ich. So n Truck, das ist halt ne Darstellung. Du siehst was Großes und denkst: Boah. Ich gehe halt auf alle Eröffnungen, sagte Rok noch einmal, entschuldigend. Er wäre also so oder so gegangen, dachte Dario, mit mir oder ohne mich, und dann: Nein, hör auf, fang nicht schon wieder an, Buchhaltung zu betreiben, nachzuhalten, wieviel du gegeben hast und wieviel zurückgekommen ist, nicht jetzt schon, und auch nicht sonst! Stattdessen wollte er jetzt einfach knutschen. Mitten im White Cube?, fragte Rok. Die ganze Stadt ist ein White Cube, also komm.

Als sie den Vorhang aus weißer Seide endlich passierten, wollten Darios Augen sich selbst nicht trauen: Ein bizarres Gefährt, rund wie eine Kugel, mit Elektroantrieb, in dem gerade so zwei Körper Platz hatten, und das verdammt an Xayides Kutsche in Die Unendliche Geschichte 2 erinnerte, stand schon bereit. So eine Art ästhetische Version der Warner Bros. Movie World-Wassertour, dachte Dario und hörte dann auf, zu denken, weil er sich einfach freute, mit Roks Körper in einer Kugel durch eine Installation zu fahren, Geisterbahnartig bevölkert von stillstehenden und beweglichen Puppen, echten und unechten fleischfressenden Pflanzen, Lichteffekten, Nebel, Glitzer, Seifenblasen, Discokugeln, Miniaturstädten and so on. Dazu gab es eine Tonspur, die, rasant geschnitten, ihre Reise zum Elfenbeinturm und zahlreiche Geschehnisse auf diesem Weg akustisch inszenierte. Darios Hand ließ Roks Hand nicht mehr los. Und noch etwas klammerte sich an sie, als Ballast. Die Tonspur stellte bei der Fahrt durch Blitzlichtgewitter die Bewohnerin des Elfenbeinturms vor: die Künstlerische Kaiserin.

–    Ich liebe deine schöne Elfenbeinturmhaut.
–    Hör auf! Ich hab immer alles getan, um nichts zu tun zu haben mit dem Elfenbeinturm, um mich frei bewegen zu können und für mich zu werben.
–    Und deshalb hast du Bildhauerei studiert?
–    Um zu wissen, was für Dinge ich aus dem Stein herausbeißen kann. Das wird händeringend gesucht. Überall in der Welt. Überall da, wo vermarktet wird, brauchst du Steinbeißer. Die Kunst, die Dinge als etwas erscheinen zu lassen, was sie nicht sind.
–    Jetzt tu nicht so, als wären Kunst und Vermarktung dasselbe. Du solltest die Vermarktung unter Kontrolle haben, nicht andersrum.
–    Bist du jetzt auf einmal Atréju, der mich vor der Hexe Xayide warnt? Wenn ich einige meiner Ex-Kommilitonen angucke, die sich nur auf sich konzentrieren, weiß ich: Die Hochschule ist ein geschützter Raum. Die silberne Stadt ist wunderschön, aber du weißt, was um sie herumliegt.
–    Ein See aus Säure.
–    Und vielleicht gibts einen Grund für die Säure. Vielleicht sorgt sie dafür, daß alles schön ist und shiny. Künstlerpersönlichkeit und Vermarktungskompetenz können nicht ohne einander. Probiers, Bastian! Wünsch dir die Säure einmal weg!
–    Auf keinen Fall.
–    Na, siehste?
–    Ich kann trotzdem nicht immer gleich daran denken, was ich verkaufen kann, sonst landet alles, was ich denke, sofort in der Hölle der Realisierbarkeit. Und dann hat sichs mit Phantásien.
–    Weißt du, was du bist?
–    Dumm, aber unwiderstehlich?
–    Du bist Rußland! Du bist so voller Pläne, für die es Millionen geben müßte, aber du hast nur ein paar Hunderter, und am Ende stehen doch wieder der Absturz und das Leiden, wie bei den Russen: bedröppelt dastehen, weil es wieder nicht geklappt hat mit dem großen Traum.
–    Wenn ich Rußland bin, was bist dann du, der Westen?
–    Ja. Und in dem ist alles möglich.
–    Vor allem der Verlust.

Jetzt endlich gönnten die Lippen Rok Errors den Lippen Dario Damianos eine Berührung, erst kurz, dann lang, dann länger, dann gewährten sie Einlaß. Erst später, als sie sich irgendwann voneinander getrennt hatten, mit roher Kraft, da die Lippen sich aufbäumten, um bei einander zu bleiben, erfuhren sie draußen von der Champagnercrowd, daß das Ende der Installation nie wirklich kam, daß sie die Kunstkonsumenten im Kreis herumfuhr, so wie Xayide Bastian, um ihn davon abzuhalten, zum Elfenbeinturm zu kommen, und daß diese Loopstruktur, zumindest laut Ausstellungskatalog, die Situation darstellte, in der die Kunst, gefangen vom Marketing, niemals zurückkehren würde in den Elfenbeinturm. Das ist einfach nur flach! Fast schon flat. Alles, was ich an Phantasien habe, sagte Rok, als sie in der U-Bahn standen, und während Dario hoffte, daß sie sich nicht wieder in der U-Bahn trennen würden, alles, was mir da im Kopf herumschwirrt, ist nur da, wenn ich es in etwas Materielles umwandeln kann. Nein, rief Dario, neinnein, gerade deine Phantasien SIND materiell, oder was würdest du sagen, ist dein Körper, wenn er sich freut, herumwütet oder sich endlich seiner unendlichen Geschichte des Begehrens hingibt, die ihn zu mir führt? Aber die Fakten, sagte Rok Error und tupfte einen Zwinkersmiley hinter den Satz. Die Fakten kannst du in die Wüste schicken, denn alles, wofür ich kämpfe und arbeite und wovon ich fürchte, ich könnte es verlieren, steckt in meinen Phantasien, die meinen Körper beherrschen. Und die du trotzdem vermarkten mußt, und warum nach Dienstschluß, wenn du es von Anfang an machen kannst, wenn du Produzent UND Agent in einem sein kannst? Vielleicht, sagte Dario und sah daß der U-Bahnhof einfuhr, an dem sie sich nun trennen würden, vielleicht weil ich, wenn sich dieser Wunsch erfüllt, merken werde, daß ich dafür meine letzte Erinnerung, meine allerletzte Geschichte gegeben hab? Aber das hieße ja, sagte Rok, daß die ganzen Geschichten, die sich nie erfüllen, und die ich nur deshalb so liebe, weil ich ihnen hinterherjage und sie nie in mein Leben lassen muß, mir auch nie helfen werden, die Trennung von beruflich und persönlich zu überwinden. Nein, sagte Dario, die U-Bahn-Tür öffnete sich, er stieg aus, im Gegenteil, du stehst da, und dein Körper IST diese Trennung.
Schon vor langem hatte Dario aufgehört, die Pornographie in dem zu suchen, was zwischen Körpern stattfand. Sie blickte ihm viel zu oft und viel zu aufdringlich woanders entgegen, in den Berichten seiner Cousins, die mal wieder Geld durch Kunstverkäufe erwirtschaftet hatten, in den Texten, mit denen Festivals seine neueste Arbeit ankündigten, in den Broschüren, mit denen sich diese globalisierte Creative City den Bewohnern der Erde anbot, willig bis zum letzten. Das, was sein Körper im Bett mochte und machte, war, trotz aller Zielstrebigkeit, nie so klar. Im letzten Moment hatte Rok Dario wieder in den U-Bahn-Waggon gezogen, dann in den Straßenbahnwaggon, dann in die Maisonettewohnung, dann die Treppe ins obere Geschoß der Wohnung, das in diesem Licht dem Inneren einer Magnolie glich. Und diesmal war Dario klar, daß es nicht mal darum ging, wie das Innere der Wohnung aussah, die Rok Errors Eigentum war, sondern um eine optische Anordnung, in der jemand wie er – eine Art lebender Leichnam, noch in diesem Zustand eingespannt ins Showbiz – in die Mitte dieser Anordnung sehen konnte, wo SEIN Platz war. Ob dieser Platz besetzt war oder nicht, war letztlich gleich. Oder nein, nicht gleich, dachte Dario, als Rok raus war, das Telefon am Ohr, um auch jetzt, um diese Uhrzeit, noch ein paar Zahlen für ein dringend durchzugehendes Budget durchzugeben. Letztlich war die Mitte so leer, wie sie jetzt war, noch mächtiger. Die Leere hatte sich ausgebreitet in der Stadt, die, je größer sie wurde, umso leerer erschien und umso herrlicher. Ich will einfach ein bißchen Ordnung in dieses Chaos namens Phantásien bringen. Ist das falsch?  Roks Stimme war nicht mehr zu hören, sein Körper würde gleich wieder erscheinen und zu Darios Körper sagen: Ich bin so leer, deshalb willst du mit mir schlafen, und ich lasse es geschehen.

Die geröteten Wangen und die feinen Schweißperlen auf der Oberlippe. Portfolio Pillow Talk: Sag mir, wer du bist, und ich sag dir, wer du sein könntest. Das will ich nicht. Sind wir hier im Mädchenpensionat? Nein, aber immerhin in den Gemächern der Kindlichen Kaiserin, also nenn mich ab jetzt: Goldäugige Gebieterin der Wünsche, sagte Rok und fuhr fort: Unterzeichnest du jetzt den Vertrag? Mit zwanzig habe ich noch nichts von den Goldaugen des Marktes gewußt. Mit fünfundzwanzig habe ich meine erste Business-Idee gepitcht, mit rötlichen Wangen. Mit dreißig werde ich das machen, und die roten Flecken werden sich an meinen Hals verschieben, und dann der alte Trick: Rollkragenpullover, wie damals, im Teenage, bei den Makeout-Parties, wo du so die Knutschflecken verstecken konntest. Jetzt bist du also doch die Einwohnerin des Elfenbeinturms, sagte Dario, und obwohl du aussiehst wie ein Mädchen von zwanzig Jahren, bist du uralt, älter als alle um dich herum, und zugleich alterslos. Nein, gerade deshalb bin ich alt. Und hat die Kaiserin nicht weißes Haar? Die einzigen grauen Haare, die ich habe, sind die hier. Rok Error zeigte auf einen grauen Kreis an seinem Hinterkopf, groß wie die Kuppe eines kleinen Fingers. Dort hatte der Maskenbildner mir ein Einschußloch geschminkt, damals, zu Halloween, und dafür die Haare wegrasiert. Und ich ging zum Halloweenfest, als Heinrich von Kleist, und sah dort Haakon Haakonson als Ernst Toller, Strick und Wunde um den Hals gelegt, wie er ein Mädchen küßte, stundenlang, ich war froh, daß die Pistole in meiner Hand nicht geladen war. Und als meine Mutter, verzweifelt, weil ich ihr nicht sagen wollte, warum die Tränen nicht aufhören wollten und schon die Tischplatte überflutet hatten, die Wunde mit Makeup-Entferner berührte, verschwand die, doch die Haare wuchsen nach und waren nicht mehr braun, sondern grau. Und da kann man nichts gegen machen? Hast du schon mal einen Turm renoviert, der vom Nichts umgeben war?

 

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Jetzt gab es kein Halten mehr. Dario Damiano hatte es sich in den Kopf gesetzt, Rok Error zu retten. Davor, ein Ort zu werden, der auf den ersten Blick glänzte und auf den zweiten Blick unbedingt gemieden werden müßte wie ein Lichtbildervortrag der Volkshochschule. Vor der seltsamen Verzweiflung, die ihn befallen hatte und einer Macht in die Arme treiben würde, die sich in viel zu viele Herzen gefressen hatte, und die sich in Rok wie in vielen anderen als das Gegenteil von Verzweiflung tarnte, um irgendwann, wenn die Menschen neunzig Jahre alt waren, zu ihnen zu sagen: Du hast gar nicht gemerkt, daß ich dich davon abgehalten habe, zu leben, aber freu dich nicht zu früh, denn jetzt werde ich dich abhalten vom Sterben. Und mit hundertfünfzehn werden sie alle nur noch beten, ihre Körper, die sich durch Fitness und Enthaltsamkeit bestens gehalten haben, endlich aus der Altersarmut zu entlassen, die sie schon neunzig Jahre erleben. Die Armut eines Lebens, das immer schon alt ist. Dario Damiano würde dieses phantastische Land, das Rok Error war, vor der Leere retten, und er würde es mit allen Mitteln versuchen und mit allen Helfern, die er kriegen konnte. Und welche kriegte er?:

▲ György: Ich würde so gern, das weißt du, ich habs dir gesagt, Jonathan Brandis war für mich alles, als ich fünfzehn war, doch jetzt bin ich zwei Mal fünfzehn, und wir wollen schauen, daß das wirklich was wird mit der Gewerkschaft.
▲ Virginia: Nein, klar, ich habe es dir versprochen. Ich komme dann morgen Abend bei dir vorbei, so um – Um elf? Nach der Schicht im Casino nach der Schicht im Halloweenstore nach der Schicht bei der manisch-depressiven Floristin.
▲ Nastassja: Ich muß dir was gestehen. Ich hab wieder angefangen. Nicht erst jetzt. Diese andere Bloggerin, die Trittbrettfahrerin, du weißt schon, die herrlichen Moves junger Girls, also, auf diesem digitalen Trittbrett, das war ich. Ich MUSS einfach posten.
▲ Dario: Und ich muß jemanden retten, der nicht weiß, in welcher Gefahr er schwebt.

Doch Dario Damiano wußte nicht, daß sich die Stadt dazwischenwerfen würde. Es war nichr so, als könnte sie es hinnehmen, wenn jemand einen Angriff auf das startete, was der Grund war, auf dem sie aufbaute, so wie andere Städte im Mittelalter auf Sumpf gebaut worden waren. Und während Dario als Bastian um Rok kämpfte, flüsterte die Stadt Rok zu: Du kämpfst einen verlorenen Kampf, Kindliche Kaiserin, bald wird der glatte kleine Palast, den du Körper nennst, mein sein. Und diese Zukunft ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit, hahahaha. Und so verpaßten sie sich immer, zwischen den Do It Yourself-Performances Darios, die ihn an die Grenze trieben und mehr noch als ihn sein Konto seufzen ließen, und den mit heißer Logistiknadel gestrickten, perfekt ausgeführten Bühnenbildern, die Rok und sein Büro in die Welt der Events setzten. Und, egal ob DIY oder nicht, die Phantasien und die Wirklichkeit hatten sich verbündet, um in Form der kreativen, nie an ihr Ende kommenden, alles aushöhlenden Arbeit das Schlimmste zu verhindern, was sich diese Stadt vorstellen konnte: eine Liebe, die daran glaubte, zerstören zu können.

–    Dein kleiner, drahtiger Körper ist so heiß.
–    Noch heißer wäre ihm auf dir!
–    UNTER mir!
–    Gutgut, so machen wirs. Und während du denkst, du dominierst mich, und ich dich deine Kraft ausspielen lasse, lege ich seelenruhig die Insignien der Macht an.
–    In Die Unendliche Geschichte 2 täuscht Xayide vor, Bastian hätte sie unter seine Kontrolle gebracht, um ihn so endgültig um alles zu bringen. Bist du –?
–    Ich bin und bleibe die Kaiserin.

Die Kindliche Kaiserin ist die Herrscherin eines Reiches, doch sie herrscht nicht und macht niemals von ihrer Macht Gebrauch. Das Verhalten ihres Körpers: Während sie dasitzt und mit leicht rötlichen Wangen und einer Flasche Bier in der Hand darüber nachdenkt, wie sie am nächsten Tag Meetings, Besorgungen, Konzeption, Ausführung, Evaluation, Fitnesstraining, Vernissagebesuch, Socializing, Tagebuchschreiben strukturieren soll und welche Dinge von der To-Do-List auf die Irgendwann-mal-List abzuschieben sind, wie all das möglichst kraftvoll und effizient zu organisieren ist, muß sie gleichzeitig dasitzen, mit rötlichen Wangen und einem Schluck Bier im Mund, mit einer überladenen Krone und einem verzierten, schweren Mantel, verpflichtet, Punkt für Punkt die Zeremonie durchzumachen und das Protokoll zu erfüllen, um das, was sie heute an Gewinnen eingespielt hat, auch nach außen zu zeigen. Und sie kann nicht, wie in Jahrhunderten, die für unsere Körper unendlich weit zurückliegen, mit steifem Hals hier sitzen und starren, sie muß sich, um ihr Gegenüber für sich einzunehmen, zu gewinnen, um auch dieses Gegenüber zu Gewinn zu machen, zu dem, was über alles zählt, entspannt wirken, locker, sogar ein wenig scheu, um die Chancen zu steigern, das Gegenüber endgültig zu unterwerfen. Die Keusche Kaiserin wiegt ihren Kopf, während sie erzählt, leicht von links nach recht, dann wieder nach links, schlägt die nicht auffällig langen, aber dichten Wimpern auffällig lange nieder, bewegt den restlichen Körper so gut wie nicht, so daß Dario, dessen Rolle in diesem Spiel noch nicht benennbar ist, von Sekunde zu Sekunde nichts mehr will, als diese Herrlichkeit zu berühren. Das Bewegungsrepertoire der Kaiserin: ein riesiger choreographischer Aufwand, eine Investition, eine Aufladung. Wäre es, wird zwei Stunden später das Evaluationsprogramm von Rok Error fragen, nicht effizienter gewesen, schlicht und einfach die Waffen zu präsentieren?

So sei es: Immer wieder zum Kino verabreden, zu einem Wochenende im Spa, zu einem kurzen Kuß, irgendwo beim Umsteigen, zwischen zwei Zügen, Flugzeugen oder Glücksdrachen, und dann, in letzter Sekunde, bringt ein weißer Vogel die Botschaft: Wieder nicht, leider. Immer wieder die Stimme von Rok am anderen Ende hören, hören, daß es schon spät ist, und dann, irgendwann, nichts mehr hören, weil der Schlaf sich die Körper wenigstens für die paar Stunden, die man sie ihm noch gönnt, holen will. Und immer wieder überlegen, welche Freunde oder Bekannte oder Bekannte von Bekannten Dario anrufen könnte, um mal zusammen Abendessen zu gehen oder sonstwohin, und um mit dieser Verbindung Rok beeindrucken zu können, doch immer, wenn er gerade den Kurator einer bekannten Videosammlung eingeladen hatte, tauchte Rok mit dem Kurator eines internationalen Museums auf, eine gefeierte Theaterschauspielerin übertrumpfte Rok mit einer preisgekrönten Filmdiva, und selbst, als Dario versuchte, das Prinzip umzudrehen und einfach Virginia mitbrachte mit ihrem Leben, das ein einziges Auseinanderfallen und Neuzusammensetzen verschiedenster Jobs war, zauberte Rok eine Kindergartenfreundin aus dem Hut, die genau das zu ihrem Geschäft gemacht hatte und ihre eigene Zeitarbeitsagentur war. Was isn?, fragte Rok, als Dario ihn bei der Verabschiedung beiseite gezogen hatte. Veranstalten wir hier nen Wettbewerb, oder was? Das ist einfach meine Art, meinen Teil des Geschäfts mit dir zu teilen. Ich dachte, sagte Dario, es ginge darum, eine Welt zu gestalten. Und sich dabei gemeinsam zu steigern! Wir sind doch professionell, sagte Rok. Wir sind angekommen, in einem Zeitalter, in dem wir endlich verstehen, wie wir unser Leben betreiben.

In diesen Worten sprach jene Magie, die sich als spielerisch tarnte und die, das dämmerte Dario von Tag zu Tag mehr, per Guerillamarketing, Plakatworkshops, Crowdfunding und anderer Techniken ihren Weg gefunden hatte in Arbeit, Liebe und Wissen. Aus Angst, allein zu sein, und daß dich die Freizeit, wenn du wieder merkst, daß du allein bist, vernichtet, bist du froh, wenn jemand kommt und dir sagt, wie du sie verwaltest. Online-Tutorial: Professionell zum Heurigen fahren. Sei unideologisch, sei pragmatisch, überwinde deine Ängste! Deine professionelle Zukunft ist keine bedrohliche Gewitterwand mehr, die schicksalhaft auf dich zukommt, sondern eine professionell bedrohliche Gewitterwand, die schon längst auf dich zugekommen ist und in der du nun festsitzt, in der ständigen Angst, der Blitz könnte dich mal NICHT treffen, und wie soll ich dann unter Strom sein, um mein Profil in irgendwelchen Jobnetzwerken zu erfüllen? In jenen Giganten, die unsterblich sind und unsere Geschichten besser kennen als wir selbst.

–    Noch besser?
–    Die Giganten sind von innen hohl. Noch ein paar Wünsche, dann wird die Leere auch dich besetzen.
–    Dat wolln wir ja mal sehen!

 

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Irgendetwas läuft immer auf ein Scheitern hinaus. Und WENN wieder etwas scheitert, hat man auf dem Weg so viele Erinnerungen an das, was wichtig war, verloren, und weiß nicht mehr, wohin. Und wieso wehrst du dich nicht?, fragte Darios Mutter Dario am Küchentisch. Es ist alles schon wieder so kompliziert und anstrengend. Dann solltest ich vielleicht etwas sagen, was ich noch nie gesagt habe, dir nicht und niemanden sonst, aber du solltest es, auch wenn du es bei deinem nächsten Wunsch wieder vergißt, wissen: Liebe kostet Kraft. Immer. Und als du auf die Welt kamst, was meinst du, wie anstrengend das war, für deinen Vater und für mich und für das, was zwischen uns war. Und wir wußten, wir können es dir nicht zeigen. Du kannst jemanden, der so klein ist, nicht mit den Kosten für diese Liebe belasten. Und wie kompliziert und erschöpfend das war! Es wäre einfacher gewesen, es anders zu machen, aber darin, daß es eigentlich nicht einfach ist, darin besteht eben Liebe. Und jetzt geh, ich hab noch meine Eurhythmiegruppe, geh, und hinter den Felsen findet ihr sicher einen Pfad, der euch durchs Gebirge führt.

Der Kampf um Phantásien, um die Kindliche Kaiserin und um Liebe, die alles andere als einfach ist, ein Fantasyfilm, produziert und während der Produktion durchkreuzt von: Creative Capital. Durchkreuzt, und zwar so: Kaum hatte Dario seine Kollegen überzeugt, daß ihr neuer Performanceabend schon perfekt war und sie die Endproben kaum bräuchten – was nicht stimmte, ihm jedoch die Möglichkeit bot, in den Teil der Stadt zu fahren, in dem Rok war –, saß Rok bei der Soundprobe für eine Oper über das Leben von Margaret Thatcher fest. Ich kann hier nicht weg, flüsterte Rok ins Telefon, gegen die Streicher und Bläser an, gleich kommt die Szene, in der man Thatcher zur Iron Lady krönt, zu einem Song von Iron Maiden, und genau da dreht sich die Bühne, und mein Berg aus Softeis erscheint. Kaum hatten sie endlich einen Abend gefunden, an dem sie sich sehen konnten, starb Roks alter Professor, ganz kurz vor der Abgabe eines Riesenbühnenbildes für das größte Opernhaus der Stadt, Rok sollte einspringen, und da kann ich echt nicht, also wenn ich das nicht, das wäre nicht mal fahrlässig, das wär. Und kaum lag Dario mit Fieber im Bett, mit echtem Fieber, oder auch das in der Zwischenzone zwischen echt und gespielt, als letzte Möglichkeit, auch in Rok Errors Gesicht wieder Fiebertemperatur zu erzeugen, war Rok von einer Figurinenzeichnerin mit Grippe angesteckt worden und verbrachte die Tage selbst im Bett. Währenddessen rückte der November näher. Währenddessen stiegen die Mieten in der Stadt wieder einmal überproportional schnell an. Währenddessen wurden auch der Milchkaffee, das Internet und der Concealer teurer, und wohin soll das schon führen? The Ever Ending Story: Letzten Endes kann jeder nur das machen, was das Geld ihn machen läßt. Und wenn Lieben da nicht an erster Stelle steht? Ende Oktober hörte sich Dario Damiano dabei zu, wie er in ein Radiomikrophon sagte: Ich versuche gerade, was Neues zu finden, auch in den Bewegungen, die ich in den Arbeiten mache, mit der Stimme, den Themen. Ich muß halt weiter, immer nur den gleichen Typen zu verkörpern, käme über kurz oder lang einem kreativen Suizid gleich. Und warum? Keine Ahnung. Das wird ein anderer Strang dieser Serie klären. Ein anderer

 

 

 

 

 

 

Strang.

 

 

 

Am 11. November 2003 leblos an einem Strang in seiner Wohnung in L.A. baumelnd: Jonathan Brandis. In der Nacht vom 11. auf den 12. November ins Cedars-Sinai Medical Center, Los Angeles gebracht, wo er am darauffolgenden Nachmittag für tot erklärt wurde.

▲ Fuchur, der Glücksdrache: What if something happens to you? Somebody must miss you in your world.
▲ Jonathan Gregory Brandis als Bastian Balthasar Bux: Nobody misses me.

Und seine Kollegen sagten: Hi, Jonathan, willkommen im Forever 27 Club. Und Jonathan sagte: Ich hatte irgendwie einen schlechten Tag. Ich war aus, mit Freunden, zum Abendessen, und als wir zurück in mein Apartment kamen, wurde ich unruhig, bin hin- und hergelaufen, dann raus. Als einer meiner Freunde mir nach einer Viertel Stunde nachkam, hing ich schon am Nylonseil, im Flur des zweiten Stocks. Ich wollte dieses Leben nicht mehr leben, wenn es nicht zuläßt, daß ich mit ihm und für es lebe. Meine Freunde schnitten mich herunter. Die Ambulanzsirene schnellte heran. Ich trug Dieseljeans, weiße Socken und weiß-blau-grün-rote Boxershorts von Tommy Hilfiger. In der Öffentlichkeit wurde kaum etwas über Brandis’ Tod bekannt, nicht weil das Krankenhaus, die Eltern oder die Freunde die Informationen zurückgehalten hätten. Es interessierte kaum jemanden. In early November Jonathan had called about five of his friends: It’s been great knowing you, but you’re not going to see me again. He thought his chance at stardom had come and gone. Keine Angst, Bastian. Wir sind alle Teil einer Unendlichen Geschichte. Und weil sie unendlich ist, kann sich niemand, der heute lebt, noch an dich erinnern. Das ist das Geschäft: Du wickelst es ab, drehst dich um und tust, als hättest du deinen Geschäftspartner noch nie gesehen. Und eine ausufernde Beamten- und Angestelltengarde in dir wacht darüber, daß das Protokoll nicht den kleinsten Moment vernachlässigt wird, eskortiert dich bei feierlichen Umzügen, versieht als Kammerdiener und Kleiderverwahrer den persönlichen Dienst. Und wenn du deinem Freund einen Kuß versprochen hast, dann zögerst du ihn so lange, wie es geht, hinaus, damit er, wenn du ihn doch gewähren läßt, weiß, daß ihr euch kaum ferner sein könntet als in diesem Moment. Und er? Hat Angst. Bald wird auch die Liebe wieder in jene Phase dazwischen eintreten, in der niemand weiß, ob je wieder was neues kommen wird. Niemand erlebt gern eine Trennungsphase, aber zuerst fühlt sich das ganz glamourös an. Sagte in einem Interview der Sänger Modest Ivanov. Neben dem Interviewvideo vorgeschlagen: Young and famous in art, Teil 5 – Gespräch mit Scenic Designer Rok Error. Weiterklicken. Zum Trailer der neuen Inszenierung. Zur Behind The Scenes-Doku. Dario rief Rok an. Dario erreichte ihn nicht, und Rok rief nicht zurück. Einen Tag nicht. Zwei Tage nicht. Zwei Wochen nicht. Kein Lebenszeichen, auch nicht auf Kontaktje, Kontaktnie, Kontaktnix. Dario war schlecht, aber nicht im Magen, oder dort auch, im ganzen Körper breitete sich eine Übelkeit aus, als müßte aus allen Zellen etwas heraus und könnte nicht, was nur stärker wurde, als er zur Ablenkung seine Mails checkte, die stattdessen ihn checkten, als er las:

Hiermit würde ich mich gern für die von Ihnen ausgeschrieben Stelle bewerben. Als Absolventin der Performance Studies an der Creative Capital University und mit meinen Erfahrungen im Bereich der Festivalorganisation, mit Professionalität in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, meiner Teamfähigkeit und meiner selbstständigen und zuverlässigen Arbeitsweise sowie meiner hohen Affinität zum Arbeiten am Abend und an den Wochenenden [siehe Anlage] könnte ich die zu vergebene Stelle Assistent_in für Ihre Performances bestens besetzen. Kurz gesagt qualifiziere ich mich durch: Sorgfalt, Belastbarkeit, Zuverlässigkeit, Flexibilität, Freundlichkeit, Teamfähigkeit und eine hohe Auffassungs- und Anpassungsgabe, sowie Lernfähigkeit und natürlich großes Interesse an Kunst und Kultur. Ich scheue weder lange, unregelmäßige Arbeitszeiten, noch Herausforderungen im Arbeitsprozeß noch ein Einstellungsgespräch am Tisch oder im Bett. xoxo

Hinter den Felsen dort findest du einen Pfad, der dich durchs Gebirge führt. Wenn du auf der anderen Seite bist, behalte die Sonne im Rücken. Folge deinem Schatten einen halben Tag lang. Und, um Himmelswillen: Dreh dich nicht um! Die Leere ist hinter dir. Und wenn sie dich hat, wirst du nichts mehr passiv auf dich zukommen lassen, sondern, mit der Leere im Herzen, aktiv anordnen, wie die einzelnen Bausteine das Image ergeben können, das du willst. Sein willst. Viel Kraft! xoxo

Nur weil ich in meiner Tragödie lebe und du in deiner, muß ich doch nicht weinen. Traurig bin ich, wenn ich traurige Musik höre, sonst nicht. xoxo

 

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Echt sein ist nicht genug
Fake sein ist nicht genug
Fresh sein ist nicht genug
Flat sein ist nicht genug
Swag sein ist nicht genug
Hip sein ist nicht genug
Nicht hip sein ist nicht genug

Klug sein ist nicht genug
Intellektuell sein ist, nein, ist doch nicht genug
Reich sein ist nicht genug
Schön sein ist nicht genug
Leiden ist nicht genug

Privat sein ist nicht genug
Beruflich sein ist nicht genug
Beruflich sein, auch wenn du privat bist, ist
Privat sein, auch wenn du beruflich bist, ist
Europa ist nicht genug
Mittelschicht ist nicht genug
Heterosexuell ist nicht genug
Homosexuell ist nicht
Transsexuell ist nicht
Intersexuell ist nicht

Intertextuell ist nicht genug
Intermedial ist nicht
Interaktiv ist nicht

Nett ist nicht genug
Nice ist vielleicht genug
Liebenswert ist definitv NICHT

Forsch sein ist nicht genug
Lame sein ist nicht genug
Forsch sein und zugleich lame ist nicht genug

Kreativ sein ist nicht genug
Kunst machen ist nicht genug
Naturalismus machen ist nicht genug
Diskurskunst machen ist nicht genug
Verweigerung der Kunst machen ist nicht genug
Kunst verticken ist nicht
Kunst zum Verticken machen ist nicht
Kunst zum Verführen machen ist auch nicht genug

Ernsthaft ist nicht genug
Ironisch ist nicht genug
Zynisch ist nicht genug

Pornographisch ist genug
Puritanisch ist genug
Pornographischer Puritanismus ist auf jeden Fall genug

Prinzipien sind nicht genug
Prinzipien brechen ist nicht genug

Teilen ist nicht genug
Nicht teilen ist nicht

Allein ist nicht genug
Zu zweit ist nicht genug
Zu zweit ist viel zu viel

Einkaufen ist nicht genug
Nichts einkaufen ist nicht genug
Dich einkaufen ist nicht

Falten: nicht genug
Anti-Falten: nicht genug
Das Ende der Herrschaft der Falten: NICHT GENUG!

Schreien ist nicht genug
Flüstern ist nicht genug
Stöhnen ist nicht genug
Reden ist nicht genug
Aufhören zu reden ist längst nicht genug

Fehler vermeiden ist nicht genug
Fehler machen ist schon gar nicht genug
IN DIESEM BILD IST KEIN FEHLER VERSTECKT!

Anarchisch sein ist nicht genug
Anarchistisch sein ist nicht genug
Revolutionär sein ist, haha, guter Witz
Revolte machen könnte
Revolution machen sollte
Revolution niederschlagen wäre

Eine gute Partei ist nicht genug
Eine gute Partie ist nicht genug
Eine gute Party ist nicht genug

Für das nächste Video sind Sie nicht genug
Für das nächste Video ist die Realität nicht genug
Für das nächste Video haben wir euren Teenageschwarm wieder zum Leben erweckt

Für The Neverending Story III war Jonathan Brandis nicht jung genug
Für Hart’s War war Jonathan Brandis nicht gut genug
Für das Kino überhaupt war Jonathan Brandis nicht mehr genug
Für ein Leben, das nichts mit Hollywood zu tun hatte, war Jonathan nicht

Für den Walk of Fame
Für den Catwalk
Für den Catsuit
Für den Lawsuit
Für das Office
Für die Hotelsuite
Für die Zerstörung der Hotelsuite
Für den Tourbus
Für die Stadien
Für die große Bühne
Für die Kleinkunstbühne
Für den Partykeller oder die Garage bist du gerade so
Für den Strick bist du
Für den Strich bist du

Ficken ist nicht genug
Küssen ist nicht genug
Nicht küssen ist nicht genug, da kann ich auch zu ner Hure gehen
Für einen Kuß von dir bin ich nicht genug

Meine Ausweispapiere sind nicht
Meine Wertpapiere sind nicht
Mein Job ist nicht genug
Mein Kontostand ist nicht genug
Mein akademischer Bildungsgrad ist nicht
Mein nichtakademischer Bildungsgrad ist noch lange nicht
Mein Kleidungsstil ist nicht genug
Meine Wohnung ist nicht
Mein Schlafzimmer ist nicht
Mein Bett ist nicht
Mein Sexleben ist nicht genug

Dein Sexleben ist nicht genug
Deine Stimme ist nicht genug
Dein Teint ist nicht genug
Dein Kopf, egal wie gebildet, ist nicht genug
Dein Body, egal wie gebuildet, ist nicht
Dein Arsch oder deine Fotze sind nicht
Dein Schwanz ist nicht
Dein Mund ist nicht
Deine Zunge ist nicht
Deine Sprache ist nicht
Dein Schweigen ist nicht
Dein Schweigen ist angesichts meines Schweigens

Tränen sind nicht genug
Tränen herunterschlucken ist nicht
Trauern ist immer immer immer nicht genug

Genug ist nie genug

 

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Neulich, in der Videokanalisation: Sie kamen aufeinander zu. Dario wußte es, und Rok wußte es, und Dario war froh, daß der Concealer seine Gewißheit zu verbergen wußte. Die Videokanäle waren der einzige Ort, an dem sie sich gesehen hatten, in den vergangenen Wochen. Heute Nacht würde es so weit sein: Dario Damiano würde den Club eröffnen, den Neverending Error Club, der jede Nacht neu aufpoppen würde, irgendwo in der Stadt, um wenigstens ihn an das zu erinnern, was noch gar nicht vorbei war. Das hier kannst nur du sehen, sagte Rok Error, niemand anderer hat Zugriffsrechte auf das, was ich sage. Hör mal: Ich habs nicht geschafft, mich zu melden, es war so viel, und die Distanz – In Phantásien ist alles so nah oder so fern, wie du es willst, Bastian. Als wir uns gesehen haben, war ich mir sicher, daß wir uns wiedersehen würden, daß ich dich wieder auswählen würde, das Ganze verlängern würde, ja. Na, niemand freut sich darüber, wenn er mit begrenzten Mitteln und knappen Fristen auskommen muß. Ich denke das bei jedem Bühnenbild, das ich mache: Ich hätts gern üppiger. Aber jede Begrenzung führt auch zu genauerem Nachdenken, größerer Disziplin, schärferer Selbstkritik und härterer Kritik an. Dir. So schlecht ist es nicht, eine Beziehung nicht einfach nur zu leben, sondern zu betreiben. Auf einmal sieht man, daß Management und Marketing nicht wie fremde, sogar feindselige Zutaten hinzukommen müssen. Dann sieht man auf einmal, was noch nicht stimmt. Und nie stimmen wird. Ich meine: Du bist Bastian Balthasar Bux, und ich bin die Kindliche Kaiserin. Wir können kurz zusammenkommen, doch gehören wir in verschiedene Welten. Und meine ist eine Magnolienblüte, eine Immobilie, mein Eigentum, und deine ist eine Altbauwohnung, wie fast jeder sie mietet, um über die immer höhere Höhe der Miete zu schimpfen. Meine Welt ist eine, in der ich bestimmen kann, wer ich bin, und deine ist eine, in der du immer noch nicht weißt, wer du sein mußt, um aus dir Kapital zu schlagen. Meine ist die der überbordenden Phantasien, der ganz großen Oper, hinter der sich ein Geschäft verbirgt, und deine ist die des alltäglichen Geschäfts, dem Phantasien entspringen, für die sich nur deine Freunde interessieren. Während das, wovon du mal geträumt hast, als du mich zum ersten Mal sahst, in einen ziemlich tiefen Abgrund stürzt, so tief, daß du den Aufprall wahrscheinlich niemals hören wirst, glühen meine Wangen noch stärker als nach meinem ersten Pitch. Mit fünfzehn habe ich meinen ersten Jungen geküßt, mit zitternden Knien. Mit einundzwanzig habe ich das erste Mal ungeschützten Sex gehabt, mit zitternden Knien, und das Zittern dauerte an, drei Monate lang. Mit siebenundzwanzig mache ich nichts mehr zum ersten Mal, und selbst wenn, dann sicher nicht mit zitternden Knien. Man hat mich selbstbewußt und kompetent, als Kooperationspartner und Akteur, nicht als Bittsteller und Empfänger entlassen, aus der Ausbildung. Das ist das, was auch auf dem Auryn steht, auf der Rückseite: Tu was du willst. Und jetzt gerade will ich nichts mehr, als den, den ich in mein Bett gelassen, auf Distanz zu halten. Was, wieso in mein Herz? Ich habe dich nicht ins Separée gebeten, um mit dir allein zu sein, sondern um mich so von mir abzutrennen, wie dieser Teil des Raums vom Rest getrennt ist. Und hier vor dir sitzt der Teil von mir, der den Vertrag geschlossen hat, und der Rest, dieses emotionale Durcheinander, steht draußen und wird sich fügen müssen, weil ich jederzeit sagen kann: Mach es nicht noch mehr kaputt! Aber wir haben doch noch gar nichts aufgebaut! Warst du nicht derjenige, der gesagt hat, immer wenn man was abbaut, baut man auch was auf? Ihr könnt jetzt die Bühne abbauen. Ich muß eh um zwölf im Bett sein, damit der Körper um punkt sieben wieder kann. Das Keusche der Erotik. So keusch, weil sie weiß, sie kann es sich nicht leisten, aufzutreten, nicht in dieses Leben hineinzutreten, mit ihren großen Geheimnissen. Dann laß uns doch eben kurz hart ficken, und dann is gut. Goodbyesex ist eh der beste. So. War doch okay, oder? Und jetzt: Laß dich bloß nicht gehen! Iß keine Schokolade! Trink einmal richtig, mit allen Kollegen, um zu zeigen, wie sehr du leidest, und dann gar nicht mehr! Zieh die Zäune noch enger, noch höher, nimm dir ein Beispiel an mir! Die härteste Türpolitik der Welt betreibt mein Herz. Die Leere kann niemand besiegen, man kann sie nur mit Liebe füllen. Doch ich weiß nicht mehr: Was ist was? Die Leere als Liebe. Die Liebe als Leere. Leere hört sich schon zu viel an für das, was man sieht, hier, wo es spricht. Und der Concealer verbirgt, daß wir nichts voreinander zu verbergen haben. Was waren das für Tage, an denen du und ich einander verfolgten, und immer verdeckten uns die Zweige, die Bewegung oder die Wolken? Rok Errors Gesicht, das keines mehr war, verschwand, alles wurde schwarz, und Dario Damiano saß wieder in seinem Zimmer, als hätte er die Videokanalisation, den Rest Phantásiens und diese Liebesgeschichte nie betreten. Es war Zeit, die Tasche zu packen und rüberzugehen, wo er den Club gebastelt hatte, in dem sie feiern würden, daß es noch möglich war, für ein Leben zu leben, seine Freunde und er, seine Freunde und er, seine Freunde. Er. Wäre. Wieder. Allein. Ach komm, jetzt reichts. Fünf Minuten Trauer sind auf jeden Fall genug. AUF KEINEN FALL! Ich dachte, wenn wir spielen, daß es etwas zwischen uns gibt, könnte es auch so sein. In jeder Romantic Comedy wär das so. Aber Dario Damiano hatte sich im Fach geirrt. Als er den Schlüssel vom Bord nahm, die Tür aufschloß und draußen keinen Lichtschalter fand, das Schwarz vor ihm wie das Schwarz im Videokanal, dachte er: Vielleicht werde ich mein Gesicht davor retten können, Face zu sein. Vielleicht werde ich im Plural existieren. Vielleicht werde ich – Ach, weißte was? Ich weiß es nicht, sorry. Ich hab gerade auf halber Strecke festgestellt, daß ich nochmal drüber nachdenken muß. xoxo

 

Für die Koproduktion dieses Textes, der leider auch nicht genug sein wird, danken wir:
▲ Giorgio Agamben: Herrschaft und Herrlichkeit
▲ George Trumbull Miller: The NeverEnding Story II
▲ Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt
▲ Tiqqun: Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens

Tags: die unendliche geschichte; michael ende; jonathan brandis; die kindliche kaiserin; atréju; tina (there is no alternative); creative capital; kreativbranche; kreativbrache; kulturelle fly-over states; auf den leim gehen; aus dem leim gehen; coole augenringe; frischhaltefolio; fotogesicht; gesichtsimitat; epic failure; krieg und zärtlichkeit; givin’-/takin’-relationship; metagüter; shoppen; photoshoppen; flach; flat; pest der exzellenz; pest der effizienz; unpersönliche gespräche; unpersönliche krise; unfriendly reminder; tod durch kreativität; forever 27 club; forever 9/11 club; damaged future; das zynische 21. jahrhundert; to belong or not to belong; tyrannei der intimität; puritanische pornographie; die tragödie verwalten