
[STAR STUDIES #3]
Christoph Schlingensief: Volker, ich kann kein Geld besorgen und mich gleichzeitig auch noch um Helmut Berger kümmern.
Volker Spengler: Dann sag ihm, daß ich ihn töte!
aus: Die 120 Tage von Bottrop
I Der pragmatische Berater
1 Ist-Aufnahme
– Ist das so heiß hier, oder sind das die Wechseljahre?
– Oder der Gin? Dieser akklimatisierte Raum macht mir zu schaffen! Er hat sich so an mich akklimatisiert, daß er genauso chaotisch und zugespammt ist wie ich.
– Wenn man Müllhalden prämieren würde, bekämst du locker Platz Eins.
– Dabei war ich mit dreißig der vielversprechendste Schauspieler meiner Generation. Mein Leben war sooooo verheißungsvoll.
– Es heißt verhängnisvoll.
– Oh.
Die Verwechslungen. Diese großen Verwechslungen, die uns das Lächerliche unseres Lebens zeigen. Und was machen wir? In Zeitlupe öffnen wir den Mund, bis er fast so weit offen ist, daß die Mundecken einreißen, und wir schreien. Jemand hat geschrien. Um Hilfe. Er war das Enfant Terrible der Siebziger und galt als schönster Mann der Welt. Seit 1967 hat er die Leinwände gefüllt und gequält mit seinem Bild, das sie wieder loslassen mußten, obwohl sie nicht wollten: Helmut Berger! Als Dorian Gray, als König Ludwig, als Fantômas, der Superverbrecher. Er war alles und war überall. Würde Berger seine Flugmeilen auf Lebenszeit umrechnen, es kämen einige Jahre zusammen. In die Hinterzimmer aber, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen fallen, bringt ihn heute kein Jet mehr. Und so ist er nun hier, mit uns, im Vorderzimmer, diesem blassen Ort namens Bühne. Inzwischen ist er eher für seine Entgleisungen bekannt. Lieber Helmut Berger, hier sind wir, um mit Ihnen die wichtigsten Schritte zu gehen: weg von Lächerlichkeiten, Rätseln und nostalgischen Stories, hin zum. Ja, wohin? Das werden wir noch sehen. Doch die Wege dorthin sind verschlungen. Das Ziel: Helmut Berger updaten, upgraden. Dafür haben wir keine Kosten und Mühen gescheut und die besten Berater zusammengeführt. Egal ob aus der Film- oder der Modebranche, dem Drag Queen- und Drag-King-Biz, der Champagnerproduktion und dem Talkshow-Jetset. Ein internationales Team aus Top-Consultants, einige von ihnen High Performer, nicht wenige sogar Overachiever. Unser Beratungsgespräch beginnt jetzt.
– Zum ersten Mal in meinem Leben fühl ich mich über vierzig.
– Weißt du auch, warum, Schätzchen? Weil du über sechzig bist.
Veränderung allein hinzubekommen ist ja auch alles andere als leicht. Und ein Unternehmensberater hilft Institutionen, sich zu verändern. Oder: mit Veränderungen, die von außen kommen, fertig zu werden. Wenn neue Wettbewerbe auftauchen, jenseits von Cannes, wenn neue Technologien eingeführt werden müssen, zum Beispiel das Home Cinema, oder wenn Globalisierung ansteht, also: die Globalisierung der Wahrnehmung. Dann muß das Unternehmen sich anders aufstellen, neue Strategien entwerfen, sich vielleicht neu organisieren. Nehmen Sie also ein weißes Blatt und einen Stift und beschreiben Sie in zwanzig vollständigen Sätzen: Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Und was ist mit Ihnen los? Wie kann ein so begnadeter, bildhübscher Schauspieler derartig verrotten?
– Die Jahrzehnte sind verlorengegangen, zwischen Rom, Sankt Moritz und Hollywood. 1967 hab ich angefangen, eine erste kleine Rolle in einem Episodenfilm. Mit Visconti, damals schon. Der ist nicht mehr da. Überhaupt ist es erstaunlich, wieviele Unternehmen es nicht mehr gibt. Heute ist das Kino, so wie wir es kannten, verschwunden. Und als ich neulich draußen einen Film sehen wollte und gar kein Kino mehr finden konnte, sah ich an mir herunter und entdeckte, daß Teile meines Körpers durchsichtig waren. Und trotzdem würde ich gern wieder drehen. In unserem Beruf gibt es ja keinen Ruhestand, Ruhezustand. Ich will, daß die Leute mich sehen.
Helmut Berger auf dem Weg zum Weltruhm. 1969: seine Beine als die Beine von Marlene Dietrich. In Luchino Viscontis Die Verdammten spielt Berger den Industrieadelssproß Martin von Essenbeck aus Essen, der vom Jüngling mit Marlene-Dietrich-Drag-Auftritt, über den Pädophilen mit seiner Vorliebe für ein kleines Mädchen schließlich zum Vorzeigenazi aufsteigt oder absteigt, also: auf- und absteigt. Die Härte der Gesichtszüge des jungen Helmut Berger, Züge, die sich vollständig unter Kontrolle haben, auch wenn sie Angst spielen oder Wut. Heute ist diese Kontrolle weg: Berger, wie er in Talkshows einfach das redet, was sein Gehirn ihm gerade meldet, frisch von der Leber weg.
– Ausrasten im Fernsehen? Geht ab jetzt nicht mehr.
– Ausrasten in Talkshows gegen Ausrasten in Filmen gegen Ausrasten auf einer Luxusyacht oder auf Koks. Wenn ein Mensch Saint Tropez ist, dann jawohl ich.
– Hab ich das gesagt?
– Ja, aber: kaa Probleeem.
Wird Helmut Berger hier beraten? Oder berät er selbst? The importance of being consulted: Egal, in welchem Unternehmen du bist, ob in einem mit mehreren tausend Menschen oder mit einer Handvoll oder einfach in dir, du internationales Unternehmen: Du handelst so, daß dein Bild von dir zu dem Bild paßt, das du von deinem Unternehmen hast. Kapiert?
– Wer ein Unternehmen berät, berät also die Menschen in diesem Unternehmen dabei, wie sie Bilder konstruieren, von sich und vom Unternehmen.
– Kann ich nicht gleich die Bilder selber beraten?
– Halt dich raus!
– Is ja gut, is ja gut! Bitte nichts zerstören!
– Ich zerstör nur mich. Warum ist Wut immer auch selbstzerstörerisch? Helmut Bergers Wut, wenn er spielte.
– Spielwut?
Oder eine Wut, die sich gegen irgendwas richtet, vielleicht gegen das Leben, das er, während er in diesen Filmen spielt, schon hinter sich gelassen hat. Das katholische Salzburger Leben seiner Kindheit, Jugend. Und darüber denkt die Wut in ihm nach? Ich spreche nur, weil ich mich selbst zerstören will. Nein. Ich spreche aus, was ich denke, damit das, was ich sage, außerhalb von mir weiterdenken kann, ohne mich.
– Oder einen grausigen Tod stirbt, in dem ich mich nicht sehen will, niemals.
– Und wenn Charlotte Rampling hier stände und Ihnen ins Gesicht sagen würde?:
– Du bist kein Schauspieler, du bist ein Skikellner, der mit seinem prallem Hintern den Regisseur becirct hat.
– Würde ich sagen: Gut sein bedeutet für mich: sich verschenken.
– Und ich dachte, gut sein bedeutet: sich verändern, permanent. Zeig mir den Coach, der da nicht nach drei Stunden oder drei Sekunden kündigt. Wie verkrafte ich permanenten Wandel? Wie verkrafte ich, daß wir sehr schnell gelebt haben damals? Daß ich einfach nicht genug Liebe kriegen kann?
– Nein, geh weg, von DIR nicht!
– Mein halbes Leben war teuer, so teuer, daß man es nicht einfach wegschneiden kann. Ich hab tausendmal versucht, meinen Traum zu teilen. Ich habe tausend Tränen geweint, und bin dennoch nicht in die Tiefe gekommen. Da standen wir, ausgerüstet mit den besten Konzepten der Welt, den universalsten Ratschlägen, die man sich vorstellen kann, mit dem eisernen Willen, hier jetzt und gleich zu intervenieren, doch diese Festung, die deinen Namen trägt, wollte sich einfach nicht öffnen.
– Na, wie steht mir der Fummel?
– Wozu der Aufwand, wenn es in ner halben Stunde zerknüllt auf dem Teppich neben ner leeren Flasche Whisky liegt?
2 Soll-Zustand-Formulierung
– Willst du dich umbringen?
– Quatsch. Mit der Rasierklinge will ich das Koks kleinkriegen. Bevor sie mich kleinkriegen. Die Klinge ist vergoldet.
– Und dein Näschen war schon goldener. Wir müssen also den jungen Berger bergen, und zwar aus dem alten.
– Na endlich, ich bin hibbelig wie eine Jungfrau bei einem Gefängnisrodeo.
– Wie stellst du dir dein Leben vor? Was hast du geleistet? Wer oder was stört dich so?
– Vor allem stört mich, daß ich mich immer damit beschäftigen soll, was mich stört. Ich will Filme drehen, mehr nicht.
– Ich hätte da ein moralisches Angebot. Dorian, sei so lieb und gib mir die Telefonnummer von deinem Freund, diesem Maler. Dieser Raum muß frisch gestrichen werden.
Eine der ersten Rollen von Helmut Berger: Dorian Gray, 1970 in die Kinos gekommen. Verlegt aus Oscar Wildes Dandy-London ins Swinging London der Endsechziger. Helmut Berger als junger, bildhübscher Mann, der sich in sein eigenes Bild verliebt, das in Massimo Dallamanos Film wie Helmut Berger selbst erstaunlich dem Idealbild eines Mannes der Endsechziger entspricht. Ideal, um einem jungen Mann beizubringen, wie man alles als Bühne begreift, auf der man irgendwas spielt. Sich spielt. Irgendwas von sich spielt. Aber was? Vielleicht erstmal Unschuldigkeit und die katholische Scham? Wie ich sie kannte, aus Salzburg. Wo ich von klein an gelernt hatte, was ich später wollte: durchbrennen.
– Also wirklich, Dorian, Sie haben dich zum letzten unschuldigen Menschen auf dieser Welt gemacht. Hast du nicht was vergessen?
– Nein, wenn ich ausgehe, hab ich nie Unterwäsche an.
– Verdammt, Helmut, willst du wirklich dieses Bild abgeben von dir?
– Ich bin schon längst dabei, es abzugeben, es immer und immer und immer wieder abzugeben an die Kamera. Man hat mir sowieso noch nie Moral unterstellt.
– Höchstens deinen Figuren. Und doch werden wir es schaffen, dich aus diesem Zustand des Verrottens zu retten. Du wirst dich formen. Durch neue Bilder von dir wirst du eine neue Wirklichkeit formen. Und gleichzeitig allen in dieser Gesellschaft zuflüstern:
– Begehen Sie nicht den Fehler, Ihre Jugend ungenutzt vorbeiziehen zu lassen. Sie müssen sie genießen, auskosten, ohne Hemmungen. Nehmen Sie, was sich Ihnen bietet!
– Man braucht alles im Leben.
– ICH BRAUCHE ALLES IM LEBEN!
– Dorian bemerkt seine Schönheit am Anfang kaum. Doch als ihm sein Portrait sein umwerfendes Aussehen spiegelt, kann Dorian das begreifen, aufgreifen. Um ein anderes Leben zu führen.
– Warum bleibt das da ewig jung, und ich werde alt? Und daß das nicht so sein muß, daß auch ein Bild alt werden kann, während derjenige, den das Bild zeigt, ewig jung bleibt, erleben wir in diesem Film.
– Und auch den Verfall. Parallel zu Dorians Verlust der Unschuld, zum moralischen Abstieg, zu Sex, Drugs and Mord, der Verfall des Bildes. Und niemand, niemand kann diesen Film heute sehen, ohne im jungen Helmut Berger den alten zu sehen.
– Alter ist ein Geisteszustand, nichts weiter.
– Erzähl das meinen Schenkeln.
Und während wir das Portrait Dorian Grays im Film altern sehen, sehen wir Helmut Berger neben uns sitzen, wir hatten ihn zuvor nicht erkannt, doch das gealterte Portrait Dorians, das mit dem gealterten Berger überhaupt keine Ähnlichkeit hat, hat uns an ihn erinnert, und da wir sein Bild vor uns sehen, erkennen wir ihn, neben uns. Aber was kann uns Dorian Gray über Bilder erzählen? Das frage ich Sie, Herr Berger. Was kann uns so eine Geschichte verraten darüber, wie Bilder Macht ausüben, wenn sie ALS Bilder agieren? Uns als Bilder berühren. Den anderen berühren, den Kontakt mit ihm immer wieder suchen, um zu wissen, welchen Film er fährt, ist ein Grundsatz von Beratung. Zum Beispiel durch Spiegeln. I’ll be your mirror! Beim Mirroring spiegle ich dir alles zurück. Ich lehne mich vor wie du, bewege meine Hände wie du, bewege die Augenbrauen nervös, die Nasenlöcher wütend, ja, ich kann sogar deine Sprache spiegeln.
– Du siehst ziemlich zerstört aus.
– Darin bin ich gut, ja. Ich hab die letzten drei Jahre in einer großen Unternehmensberatung gearbeitet, und wenn ich was gelernt habe, dann zerstört aussehen. Und im richtigen Moment umschalten auf das Gegenteil. Du mußt dein Gegenüber erst dazu bringen, dich mit dir zu identifizieren, und wenn die Katze im Sack ist, dann!
– Es war unglaublich schwer, das zu spielen.
– Die Skrupellosigkeit?
– Die Unschuld. Diese lächerliche Unschuld Dorians. Die hatte ich nie gehabt. Ich kannte nur das andere, dieses riesige Versprechen, das dir dein eigenes Bild gibt: Du wirst es schaffen. Erhalte mich, erhalte deinen Glanz, und du wirst es ganz sicher schaffen.
– Dorian Gray als Vorhut des 21. Jahrhunderts. Wer sonst hätte so früh den Glanz mit Politik verbunden? Einer Politik, die nur auf sich selbst sieht:
– Leben Sie! Leben Sie dieses wunderbare Leben. Eines Tages werden Sie alt sein, runzlig und häßlich wie diese bedauernswerten Geschöpfe hier. Ihr Gesicht wird nicht mehr gefallen. Ihre Schönheit ist dahin. OH NEIN! Das habe ich nicht gesagt. Nur gedacht. Als Berater darf man alles denken, aber nicht alles sagen! Ich will lieber fragen: War das denn nie auch mal nervig, so schön zu sein?
– Ich hab es gar nicht gemerkt. Ich war bildhübsch. Nein. Nur mein Bild war hübsch. Der Mut, tiefer an der Persönlichkeit zu arbeiten, um auf diese Weise größere Schätze zu heben. Und der größte Schatz an mir war außen an mir. Deshalb kann ich auch mit Gemälden nix anfangen, die nicht unter Glas liegen, das ist einfach kein Stil, und außerdem kann ich mich dann überhaupt nicht spiegeln und mir sagen: Du bist Teil des Gemäldes, der beste Teil.
– Du hast dich verändert.
– Oh nein, mein Schatz, ich werde mich nie verändern. Das Bild vielleicht, aber ich niemals. So war es, als ich ihn drehte, den Dorian Gray. Und heute: Sind die Bilder UND die Menschen resistent gegen Veränderung.
– Also mein erster Film, also Die Verdammten, da muß ich eben diese Szene spielen, und, äh, die Premiere war dann in New York, und dann hat eben die Marlene Dietrich ein Bild geschickt von ihr, ins Hotel, und ein Bild von mir in der New York Times, die Kritik, und hat da draufgeschrieben: Who is prettier? DU
– BIST DER ERSTE
– UND EINZIGE,
– DER MICH SO GUT
– GEMACHT HAT. Jaja. Und ich warte immer noch auf einen Schauspieler, der mich auch so gut macht.
– Machen wir morgen weiter, ja?
Dann stehst du auf, gibst ihm die Hand, lächelst. Drehst dich um, läßt das Lächeln fallen, läßt das Interesse fallen, schließt dein Hotelzimmer auf. Du fühlst dich absolut am Ende und schaust in den Spiegel, und was da zurückschaut, ist so vital, wie kann das gehen? Und während ich herumreise, um andere zu beraten, und mich Jahr für Jahr Jahrzehnte älter fühle, aber nie älter werde, ist das Foto von mir auf dem Desktop so alt, daß alle immer fragen: Hey, wer ist der coole Alte da? Die Verwechslungen, diese monumentalen Verwechslungen, wenn du nicht mehr weißt, ob das du bist oder das Bild. Der Puls wird schwächer. Die Glieder versagen. Ich war immer Teil einer Welt, die ihr euch überhaupt nicht vorstellen konntet, bevor ihr sie saht, vor allem mich hättet ihr euch nie vorstellen können, bevor ihr mich saht, aber am Ende war euch dann klar, daß ich es bin, der euch ansieht. Aber erst als sie den Ring sahen, erkannten sie, wer er war.
3 Kalkulation
– Rühren Sie sich nicht, oder ich töte sie! Gut. Und jetzt strecken Sie die Arme flach nach vorn aus und wiederholen, was ich sage: Ich bin nicht okay – Du bist okay. Und das immer wieder, bis Sie schlafen!
– Ich bin nicht okay – Du bist okay. Ich bin nicht okay – Du bist nicht okay. Ich bin okay – Du bist nicht okay. Ich bin okay – Du bist okay. HILFE!
– Ist alles okay? Wer –?
– Ein Verbrecher! Er hat unser komplettes Budget geklaut.
– Ein Verbrecher? Mit einer Maske? Fantômas!
– Wer ist denn das, dieser Fantômas?
– Niemand. Vielmehr: irgendjemand. Er macht Angst.
Die Angst, ein Budget machen zu müssen, besser machen zu müssen als die Budgets bisher, und beim Öffnen des Excel-Tresors merken: Es ist schon weg! Die Angst, aufzuwachen und wieder zur Arbeit zu müssen, in diesen Consultingtempel, der überall ist, in der ganzen Welt, angedockt an hilfebedürftige Unternehmen. Die Angst, kein Foto zu bekommen. Und dann diese Silhouette, diese schreckliche Silhouette, legendär, von der die ganze Welt sprach. Helmut Berger? Fantômas! 1980 spielt Helmut Berger für das ZDF den Superverbrecher Fantômas. Im Vorspann erscheint seine Silhouette in Miniaturform vor der Stadt Paris, erscheint und wächst an, wächst, bis dann in ihr Fantômas komplett sichtbar wird: schwarzes Cape, schwarze Maske, schwarze Stiefel, schwarze Handschuhe, schwarzes Messer in der Hand. Ich sah das, vor dem Fernseher sitzend, und ich wußte: Ich hab das gesehen. Genau das: ein riesiger Mann über einer Landschaft mit irgendwas in der Hand hab ich schon mal irgendwo gesehen. Auf dem Titelblatt der GALA? Naaa! Auf dem Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan. Der souveräne Herrscher steigt aus der Landschaft auf, riesig, das Schwert in der rechten Hand, den Bischofsstab in der linken, die Krone auf dem Kopf, und sein Körper wird geformt, vollständig geformt von vielen anderen, die sich in ihm versammeln. I like! Ist doch immer besser, wenn viele zusammen nachdenken, und nicht nur einer. Von wegen. Im Kopf des Herrschers denken eben nicht viele nach, im Gegenteil, der ist unbevölkert, der ist einfach da. Wie ein realistisches Portrait. Einfach da. Ein Gesicht, das allein denkt und sich zuwenden kann oder abwenden, je nachdem.
– Ich soll EIN Gesicht darstellen? Nur EINS? Warum?
– Weil Sie der größte Schauspieler unserer Zeit sind und mit Ihrer Empfindsamkeit verstehen können, daß eine Frau sich vor allem nach Zärtlichkeit sehnt.
– Diese Zeit kennt keine Zärtlichkeit. Was für eine Zeit soll das sein, wenn Helmut Berger mit DEM Gesicht eine Maske tragen muß?!
– Die vielen Masken übten einen Reiz aus auf mich. Denn Fantômas kann jeden spielen. Doch jede Realität, von der man glaubt, sie sei Fantômas, entpuppt sich als Fiktion.
– Helmut Berger als Fantômas als Schauspieler aus Paris. Helmut Berger als Fantômas als Concièrge. Helmut Berger und Fantômas als Kommissar Juve, der Fantômas verfolgt. In dieser Rolle ist Berger doppelt oder dreifach verschachtelt und überall.
– Ganz schön sparsam. Und das ist gut. Wenn wir unser Budget zurückergattert haben, werden wir durchkalkulieren, und zwei Facetten klingt sparsam, und das ist gut.
– Aber was ist mit dem Rest?
– WELCHER REST?
– Das Geheimnis der Tapetentür, das verschlossene Zimmer, die verwinkelten Gänge, die uns unter die Stadt führen.
– GIBT ES NICHT!
Es gibt die unsichtbare Hand, aber ein Geheimnis gibt es nicht. Die bürgerliche Moral liegt vergiftet auf dem Bett, auch wenn jeder denkt, daß sie schläft. Kein Wunder, daß Fantômas, in den Zehnern und Zwanzigern des 20. Jahrhunderts in zwei französischen Schreibmaschinen geboren, 1980 wiederaufersteht. Helmut Bergers Fantômas als frühes Aufgebot gegen den neoliberalen Umbau der westlichen Welt. Nachdem er als Dorian Gray allen zurief: Denkt nur an eure Bilder und an den Profit, den sie bringen!, tritt er als Fantômas an, um den Großkriminellen, die die Gesellschaft zu ihren Gunsten umbauen, alles abzunehmen. Zu spät. Der Superverbrecher, befreit von jeglicher Moral, ist nicht mehr stärker als die, die Moral benutzen, um ihn zu einem Feind zu machen, der vernichtet werden muß. Und diese Verbrecher erhalten einen Heiligenschein, ihre Namen werden von den Dächern gerufen, von den Hochhausdächern einer wachsenden Finanzwelt, deren Hochhäuser gar nicht mehr hoch genug hinauskönnen. Was kann ich tun? Tiefstapeln? Die Faszination, die uns alle befällt, wenn wir durchkalkuliert werden sollen und davon träumen, der Kalkulation zu entkommen.
– Fünfundzwanzig Millionen! Wir haben fast das Vertrauen unserer Kunden verloren. Sie lächeln?
– Ich denke an die vielen Liebhaber, die ich gehabt habe in meinem Leben. Bis ER kam. Der Film war mein Liebhaber und Dämon zugleich.
– Deshalb kann ich, Kommissar Juve, die klassische Ökonomie des Krimis auf diesen Verbrecher nicht anwenden. Ja, je mehr ich aufdecke, desto mehr decke ich die Identität des Schurken zu. Je mehr ich zudecke, desto stärker muß ich ziehen, um ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Und je stärker ich ziehe, desto tiefer falle ich, und am Ende, am Ende bin ich kurz vorm Herzinfarkt und vorm sozialen Tod.
– Ich habe den Tod oft von nahem gesehen. Mein Lieber, vor Fantômas, das gebe ich zu, habe ich Angst, weil ich weiß, daß ihn nichts, absolut nichts aufhalten kann. Mal als Stricher, mal als russischer General, mal als kleiner Schmarotzer aus der Mittelschicht. Er ist so beweglich, vom unteren Ende der Gesellschaft in zwei Sekunden nach oben! Von der Realität in nullkommanix zur Fiktion! Er ist Teil des Jetsets.
– Ich bin in das G’schäft reingekommen eben durch den Jetset. Und ich mach das G’schäft, um Geld zu machen. Ich möchte ein Filmstar werden, und ich werde es auch erreichen.
– Und wieder verlieren. Helmut Berger als Teil einer Elite, die sich nur auf sich selbst bezieht.
– Beratung als Geschäft, das sich auf sich selbst bezieht. Als Berater bin ich immer mittendrin und muß zugleich von außen auf das Geschehen schauen. Ich bin immer beteiligt, betroffen und in die schlimmsten Dinge verstrickt, die diese Erde unter dem Etikett Rationalisierung je gesehen hat, ich bin mittendrin UND außen vor.
– Wie Fantômas. Der ist immer, maskiert, teils als seine Opfer maskiert, mittendrin, und zugleich mit dem Fernrohr am Auge, um zu überprüfen, außen vor. Fantômas als der perfekte Berater: Nie läßt er sich zum Spielball von Emotionen machen, und dennoch bleibt er ganz auf sein Gegenüber eingestellt.
– Und Ihre Motivation? Geld? Der Moment, in dem ich merke, daß der Glanz die Politik nicht davor schützt, von mir lahmgelegt zu werden.
– Mordlust. Die ist mein Gewinn. Ich hab noch allen ein Schnäppchen geschlagen.
– Und dabei die Reichsten der Reichen beraubt.
– Und ihnen gegeben, was ihnen kein Consulting geben kann: Spannung. Leben! Auch wenn ich es ihnen dann sofort nehmen mußte. Diese eine Sekunde kurz vor dem Messerstich, diese Anspannung des ganzen Körpers, die höchste Intensität der Wahrnehmung. Es gelten nicht mehr die gleichen Kreditbedingungen.
– Tja, liebste Baronin, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber Sie sind ruiniert, vollkommen. Das ist die traurige Sprache der Zahlen. Ihre Villa, Ihr Wagen, Ihre Dienstboten. Davon müssen Sie sich trennen.
– Von der Wall Street zu Wal Mart – eine Aufstiegsstory.
– Wenn nichts in deinem Leben sich berechnen läßt, versuchs mal mit Buchführung!
Solche Sätze wirken am besten, wenn Sie anfangs ganz auf die Wirklichkeit des Adressaten zugeschnitten sind, da es sich nicht um ein Entspannungstraining oder eine Hypnose handelt. Da es sich nicht um ein Entspannungstraining oder eine Hypnose. Nicht um ein Entspannungstraining oder eine. So, jetzt sind Sie in Trance, und ich kann Ihnen diese Maske überziehen, UND: Das Fallbeil ist gefallen und das Gesicht nicht erbleicht. Und wenn es nicht erbleicht ist, dann ist es geschminkt, ist nicht das Gesicht des Verbrechers, das heißt: Fantômas ist entwischt, wieder mal. Fantômas berät die anderen, so daß sie am Ende sein Gesicht tragen, ein Gesicht, das es eigentlich gar nicht gibt, das es nur in tausend Formen, tausend Masken gibt, er macht die anderen zu Ebenbildern und bringt sie dann um.
– Oh ja, jetzt erinnere ich mich. Sie haben mir eine Spritze gegeben. Eine Finanzspritze, die mich für kurze Zeit aufleben ließ, um mich dann zu ruinieren. Endgültig.
– Das nächste Rauschmittel, das zur Euphorie hinreißt, kommt bestimmt. Unsere Wirtschaftsordnung wird sich immer auf- und ab bewegen und Übertreibungen provozieren. Aber hör mal, ich will dir keine Vorlesung in Wirtschaftsgeschichte halten. Oder doch?
4 Konzeptionsentwicklung
Ich möchte ein Schloß bauen, und Sie können mich beraten. Auch wenn ich bankrott bin. Und genau deshalb werden wir es nun besichtigen, dieses Schloß, das noch gar nicht gebaut worden ist. Welch überbordende Fantasie, die uns durch diese Räume führt! Ich erinnere mich an sechzehn bis achtzehn, ich weiß nicht mehr. Immer alle ausgeleuchtet, alle im Visier der Kameras, die Visconti nebeneinander aufreihen ließ. Das hieß: Eine Kamera war auf eine bestimmte Szene gerichtet. Und wenn dann die Schauspieler den Bildausschnitt verließen, befanden sie sich automatisch in der nächsten Szene, vor der nächsten Kamera, dann vor einer dritten, undsoweiter. Deshalb war für die Lampen so wenig Platz. Das sehen Sie dort, in diesem Mosaik an der Wand, und wenn Sie sich dorthin drehen, werden sie ein kleines Dorf aus Mosaiksteinchen sehen, einen alten Mann und einen jungen Mann und einen grauen Kaschmirschal, der fällt. Das ist der Moment, in dem die Geschichte des alten Mannes und die des jungen Mannes sich vereinen. Durch den grauen Kaschmirschal, sein feines Gewebe, die langen Fransen. Luchino legte ihn mir einfach um die Schultern, als ich fror. Auch wenn ich ein Risiko blieb, liebte er mich. Ich hatte ja keine Ahnung von Film, ich wußte nur, wie mich drehen, wußte nur, wie schauen, damit alle anderen schauen. So war ich sein Risiko, ein geliebtes Risiko. Auch, als ich Ludwig war. Und er hat mich härter angepackt als alle anderen. Es ging nie um das Wesentliche, nie um Reduktion. Es ging immer darum, alles so weit und schön und prachtvoll wie möglich zu inszenieren. Auch wenn die Kritiker schrieben: Helmut Berger gives a fascinating but cold performance in the title role. Du kannst so was selbst erst Jahre später sehen. Was du da gemacht hast, vor der Kamera. Du kannst es manchmal erst Jahrzehnte später sehen. Helmut Berger als Ludwig II., bewegt von Viscontis Hand. Visconti, der sagt, daß Ludwig unter einer Realität litt, in der er sich nicht verwirklichen konnte. Der nur den Glanz wollte und NICHT die Politik, und erst recht nicht, wenn Glanz und Politik eins sind. Bewegung und Sprache sind eins. Das habe ich gelernt von ihm. Er sagte eigentlich nie richtig, was er von einem verlangte. Oft äffte er dich einfach nur nach. Und um dem zu entkommen, mußtest du weiter, wieder viel weiter, als du konntest. In den Räumen seines Hauses saßen wir herum, als hätten wir alle Zeit der Welt. Zuerst fütterte der Monarch zwei aus dem Schloßbassin herbeigeschaffte Schwäne, hernach bestieg er mit einem Lakai eine vergoldeten und versilberten Kahn in Form einer Muschel, und ließ sich auf dem Wasser, durch einen unterseeischen Apparat bewegt, herumrudern. Doch auch die schimmernden Wellen, auch die Boote, die Schwäne, das Licht, nichts kann verdecken, daß Ludwig in der Realität leben muß. Wie wir. Es ist nicht erlaubt, in die Illusionen zu fliehen, und wenn man es versucht, dann am besten mit voller Wucht. In den See. 1886, im selben Jahr in dem ein Professor des MIT in Boston die erste Consultingfirma der Welt gründet, stirbt Ludwig II. im Starnberger See. Und, bitte, natürlich hat Beratung mit Fantasie zu tun: Wir produzieren Gefühle, innere Bilder, Dialoge, Erfahrungen, Szenen, Vergangenes und Zukünftiges. Wir entwerfen uns selbst. Die Zusammenarbeit ist das wichtigste, die Vorbereitung. Denn ich bin ja Emotion, emotional, wie sagt man? Bin vor allem Gefühl. Früher mußtest du eine Rolle, die soziale Rolle in deiner Liebesbeziehung spielen, und wenn du das gemacht hast, hattest du das dazu passende Gefühl. Und zwar echt! Es war gespielt, wurde DURCH das Spiel produziert, klar, aber wenn es mal produziert war, dann war es echt. War es echt. Echt. Wollen wir noch ein bißchen Echo in den Hallen des Schlosses spielen? Um Gottes willen! Da ist grad die Führung. Die Führung durch dieses Museum, das der Ludwig-Film von Visconti ist. Helmut Berger als Ludwig und Romy Schneider als Sissi als die wichtigsten Ausstellungsstücke darin. Und obwohl wir da sind, um den Film zu sehen, um alles in diesem Museum zu sehen, ist es scheinbar völlig egal, OB wir sehen. Das verstört mich. Daß jemand angeschaut werden kann, ohne sich Gedanken zu machen, was die, die ihn anschauen, denken. Das stört mich. Es ist entsetzlich, aber ich kann es nicht mehr ertragen, mich von tausenden Menschen anstarren zu lassen, tausendmal zu lächeln und zu grüßen, Fragen an Menschen zu richten, die mich gar nichts angehen und Antworten zu hören, die mich nicht interessieren. Was wollen Sie eigentlich? In die Geschichte eingehen, mit der Hilfe Viscontis? Och ja, wär schon schön. Das wirst du nicht schaffen. Visconti schon. Der große Regisseur, adelig und linksradikal, für den Glamour und Politik schon damals zusammengingen, bei dem Arbeit und Leben schon damals nicht zu trennen waren. Und wohin bringt es dich, wenn du es nicht trennst? Die Unsicherheit, diese große Unsicherheit, wenn du anderen gegenübertrittst und denkst: Die wollen dich zerstören. Alles überstürzen, immer Falschheit vermuten, dann doch verlieben und zuletzt den Freund verdammen und alles abbrechen, was es an Beziehung gab. Ich dachte, du wärst mein Seelenverwandter, ich wäre gestorben für dich. Kann Ludwig die Liebe, die heimliche Liebe zu seinen Liebhabern, nur als Ähnlichkeit zwischen ihm und den anderen denken? Leider ja. Vertrauen is gone. Und wer kein Vertrauen zu seinen Beratern hat, der befrage die Toten. Auftritt: Romy Schneider, ein Gesicht, das und so nah ist, daß es schon wieder fern ist und uns auch wegführt, weit weg von uns. Wenn ich Romy nicht gehabt hätte, wäre ich verzweifelt. Dabei war sie selbst schon am Ende. Wie sie suchte in den Gesprächen, herumtastend, mit der Sprache, um dann zu diesen ganz präzisen Begriffen zu kommen. Und auch im Film stürzte sie sich so hinein, daß man dachte: Was sucht sie da? Sie sucht doch irgendwas? Was sucht die denn? Bis am Ende, und dieses Ende war im selben Augenblick, das Suchen und das Ende des Suchens in EINEM Augenblick, bis am Ende dieses ganz präzise Spiel dabei herauskam, so klar wie ein gerade vor unseren Augen und Ohren geklärter Begriff. Und was klärt sie da?: Sie wollen, daß ich Ihre unerreichbare Liebe bin, um sich selbst zu bestätigen. Eine Liebe, wenn es wirklich eine ist, hat schon vorher begonnen. Liebe bedeutet auch Pflicht. Und Ihre Pflicht ist es, die Wirklichkeit zu sehen. Versuchen Sies! Versuchen Sie es doch einfach mal! Versuchen Sie, Gefühle zu empfinden, versuchen Sies, und wenn Sie es stark genug versuchen, werden Sie sie empfinden. Auch die Verantwortung, auch die. Und den Schmerz. Wie ein Springbrunnen lief das Seewasser aus seinem Maul, fort und fort, und am Ufer knieten die Doktoren und Sanitäter, um Wiederbelebungsversuche zu machen. Doch es wird nichts bringen. Nichts wird den Schmerz wiederbeleben, nichts wird ihn zurückbringen in der Form, in der es ihn gab. Früher war der Schmerz etwas, das über dich hinausging, um dich mit anderen zu verbinden. Heute ist er ein Grund, zur Therapie zu gehen. Immer größer die Angst vor Verrat. Immer weniger Freunde. Immer mehr Schlösser für Ludwig. Dieses große Versprechen, daß ein Leben, das schön aussieht, perfekt aussieht, für immer an der Macht bleibt. Aber nein. Auch die Bilder verrotten irgendwann. Und deine Macht mit ihnen. In meinem Reich gebietet nicht mehr die Fiktion. Weil verschiedene Journalisten gemein und bösartig drüber geschrieben haben, daß ich nur nackt arbeite. Meine Arbeit selbst ist nackt, ICH nicht! Na, hier war, geh, was isn das hier? Das gibts doch gar nicht. Wie kann man so was kaputtmachen? Jetzt brauch ich an Scotch. Vergessen Sie Ihre Träume! Wir sind nichts als Pomp. Doch die Führung durch dieses herausragende Monument wird wohl niemals ein Ende finden. Dieses Monument namens Helmut Berger. Leider existieren immer weniger Originalschauplätze wie der hier. Aber wenn du mir deine Liebe übergibst, werde ich von deinem Bild nichts mehr wissen wollen. Den Namen des Unglücklichen soll niemand mehr aussprechen, ausschreiben. Der Anfangsbuchstabe reicht. Die Liebe wird weggespart, bis nur der Anfangsbuchstabe bleibt. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, ein Schloß für dich zu bauen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, ein Schloß für die späteren Generationen zu bauen. Erst recht nicht fürs Volk. Ich wollte die Schlösser für mich. Wollte ein Rätsel bleiben, ohne Aussicht drauf, daß jemand mich errät. Wollte die Schlösser sprengen lassen, wenn ich nicht mehr bin. Und das hole ich JETZT vor Ihren Augen nach.
5 Konzeptpräsentation
– Alan, bist du der Meinung, daß die sichtbare Welt von der unsichtbaren beeinflußt werden könnte?
– Nein, nur andersrum. Seit zehn, fünfzehn Jahren ist es genau andersrum, nämlich daß die Welt, die wir sehen, den Rest beeinflußt, das, was wir nicht sehen. Wenn ich die Körper der Models sehe, egal ob männlich oder weiblich, fängt mein Körper, mein achtundsechzigjähriger Körper an, zu rumoren, denn, klar, der will auch wieder so aussehen wie damals, mit achtundzwanzig, obwohl er auch da nie so gut aussah wie die Modelkörper heute, wieso?
– Weil die Performancesteigerer heute besser sind.
– Geh mir weg mit den Proteinshakes!
– Nicht Proteinshakes. Photoshop! Endlich, mit ein paar Klicks in Photoshop, kann auch dein Körper die Performance bringen, die er bringen sollte.
– Ich bin High Performer?
– Du stehst DA! Und außerhalb von Photoshop sieht dein Körper so schwammig aus. Doch das ist dir egal. Denn deine Bilder zirkulieren und zirkulieren, oha, in dieser Sekunde sind schon wieder ein paar Jugendliche darauf gestoßen und denken: So werde ich nie sein. Und das werden sie auch nicht. Weil auch du es nicht bist. Aber schon hat sich dieses Bild von dir, dieses absolut Sichtbare, in die unsichtbaren Regionen ihrer Körper vorgefressen und nistet sich ein.
– Und sie werden von nun an jede Zelle disziplinieren, jede kleinste Bewegung, jeden Gedanken, um irgendwann auch dieses Bild zu sein. Oh, diese Verwechslungen! Das, was man sehen kann, hat sich vorgefressen dorthin, wo man gar nichts sehen kann, in die Tiefe des Körpers, wo tausend Tränen warten. Seeing WAS believing.
– Früher konnte ich noch sagen: Bei Filmarbeiten bin ich Teil einer Gruppe und unterwerfe mich der Disziplin des Plans. Heute ist der Plan in jeder Sekunde in mir, um mich zu disziplinieren. Ich bin verdorben.
– Durch Visconti war ich nun mal verdorben. In seinen Filmen war alles geschmackvoll, alles angefertigt, nichts war gemietet oder vom Kik. Und so und nur so konnte in dir, wenn du gespielt hast, das richtige Gefühl entstehen. Wie soll das auch sonst gehen, wenn alles nur Fake ist?
– Dann schau dir mal die Innenstädte an. Da ist überhaupt nichts mehr echt. WAS?! Dafür hab ich dich nicht beraten, die letzten vier Monate. Ich habe mit meinen Ratschlägen in dich selbstorganisierendes und komplexes System interveniert. Ja, ich bin jetzt Interventionskünstler!
– Aber nichts in mir harrt seiner Vollbringung und Entdeckung!
– Nein? Dafür werde ich mich rächen!
– Man kann sich nicht an mir rächen. An mir, diesem Regime aus Bildwelten und Spardiktaten, die dich dazu verführen, immer mehr auszugeben, um an deinem Image immer mehr zu sparen, damit es sich erfüllt, an mir kann man sich nicht rächen.
– Irgendwann wiederholten sich die Fragen der Journalisten, und es begann, mich zu langweilen. Irgendwann wiederholten sich die Antworten, und die Journalisten begannen, sich zu langweilen. Als mein erster Film, also Die Verdammten, und dann hat eben die Marlene Dietrich ein Bild geschickt und hat da draufgeschrieben: Vor Jahren war es so, daß du dich völlig desolat fühltest, und von außen schien es keiner zu sehen, und du nahmst all deine Kraft zusammen, DAMIT es keiner sah. Jetzt sprechen alle über deinen Verfall, dabei fällt dir nichts auf, im Gegenteil. Da ist nichts mehr in dir, was darüber nachdenkt, ob du verfällst.
– Nein, keine Fotos machen, bitte nicht. Ich bin Schauspielerin, wissen Sie? Das hier, diesen Dienst am neoliberalen Kapitalismus, das mache ich, um leben zu können.
– Die Welt ist so ängstlich. Und für die Angst wird jede Fantasie gekillt. Fantômas hat immer versucht, die Fantasie zu killen, in dem er das Schema von Gut und Böse ignorierte. In seiner Welt war jeder gut UND jeder böse.
– Und um diese Fantasie, jemand sei nur gut oder nur böse, zu killen, brauchte er wiederum Fantasien. Sein ganzes Leben beruht nur auf dieser Fantasie, der Fantasie, daß jemand Moral nicht anerkennt. Die Wirtschaftsordnung, in der wir leben, braucht diesen Kampf nicht mehr kämpfen, braucht an Moral nicht mehr denken, wieso auch? Das hier ist WIRTSCHAFT. Die ist jenseits von Moral.
– Aber was wollen Sie dann?
– Sie verschlingen, Madame. Mit den Augen.
– Ist das dein Dialog aus dem Denver-Clan, Helmut?
– Ich habe nie Fehler in meinem Leben gemacht. Aber wenn ich einen Fehler gemacht habe, dann war es der Denver-Clan. Wenn ich eine Orgie mache, und ich soll mir verkommen vorkommen, warum? Ich weiß nicht, was Moral ist, tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was Unmoral ist. Ich weiß nur, ich hab mein Gewissen. Die Ökonomie will immer nichts von gut und schlecht wissen.
– Los, bringt ihn in den Turm und laßt sein Geschlechtsteil von Ratten fressen!
Helmut Bergers Figuren, die nur IHR Gewissen haben. In Ludwig als Ludwig, in Salon Kitty und Die Verdammten als Nazi, immer wieder folgt sein Handeln nur dem eigenen Gewissen, und das eigene Gewissen dem Regime der Bilder. Der Nationalsozialismus als hochkomplexe Verschränkung der Bilder und der Politik. Nur, wer das Bild erfüllt, wird leben. Warum nach dieser Katastrophe die Bilder immer noch so viel Macht haben, wissen Helmut Bergers Filme auch nicht, die genug mit ihren eigenen Bildern zu kämpfen haben. Die Glitzer-SS-Uniform in Salon Kitty: Zieh sie an! Zieh sie doch bitte nochmal an! Und du wirst dich endgültig dem Glamour der Bilder unterwerfen und so untergehen!
– Aber es steht doch gar nichts auf dieser Karte. Selbst auf dem Papier erscheint Fantômas, und dann verschwindet er wieder. Wie er grad will. Aber hier erscheint ein anderer Text: Ich gebe auf. Gegen die Realität des Kapitalismus und seiner Berater, die niemals sterben, obwohl sie so endlich sind, habe ich keine Chance. Au revoir.
– Sagen Sie mal: Könnte man sie nicht ein bißchen aufbauschen, diese Geschichte?
– Den Facebook-Aktienabsturz? Vielleicht könnten Sie unter das ganze ein bißchen Fantômas mischen? Fantômas hält für einen weiteren Skandal her, den Helmut Berger dringend bräuchte.
– Du hast meine PR gestohlen! Paßt Helmut Berger nicht mehr ins Kino von heute, da das Kino sich so verändert hat? Ich habe so lange gewartet, bis ich denjenigen begehren durfte, den ich begehre. Auch wenn ich ihn, um ihn zu begehren, erst erfinden mußte.
– Mit dem Erfinden ist es vorbei. Keine Liebe als Leben im Unterschied? Du stehst DA, ich steh DA, aber es ist nicht dasselbe DA, und am Ende, am Ende hab ich dich nur etwas lieber als den Tod. Gutes Konzept, ne? Und das werde ich implementieren!
– Versuch es. Die Liebe wird uns retten!
– Schön wärs.
6 Implementierung [Coaching inclusive]
Angenommen, es würde heute Nacht, während Sie schlafen, ein Wunder geschehen, und Ihr Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das morgen früh merken? Wie wird Ihr Partner davon erfahren, ohne daß Sie ein Wort zu ihm sagen? Was wäre anders? Die Liebe wäre verschwunden. Und im Aufwachen noch, während die Wirklichkeit sich gerade erst wieder geraderückt, scharfstellt, wäre mir schon klar, daß sie viel länger verschwunden ist. Daß es sie so nie gab. Ich war nie in dich verliebt. Ich war immer nur in etwas verliebt, daß man Liebe nennt. Natürlich WOLLTE ich das. Und als du in mein Leben kamst, dachte ich: Der kann das spielen, den kann ich einsetzen für dieses Wort namens Liebe, der wird das schon bringen. Und dann hast du es mir gesagt, und ich habe es dir gesagt, diese drei Wörter, die mir schon, als ich sie aussprach, so lose vorkamen, so unverbunden.
– Dann verlaß mich!
– Liebst du mich nicht mehr?
– Ich will so sein können, wie ich nun mal bin.
– Ich erkenn dich nicht wieder. Früher hatten wir so einen Spaß daran, uns zu inszenieren. Wir waren mal SO zueinander und mal SO, haben uns Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt, haben sie produziert und reproduziert, doch nie haben wir gesagt: Wir sind SIND SO. Wenn eine Szene das erste Mal gespielt wird, wird sie am wahrhaftigsten gedacht. Durch Wiederholung, durch Reproduktion, wird alles so flach.
– Meine Brüste?
– Deine Brüste UND dein Denken. Aber wozu muß ein Schauspieler denken? Er muß sich im Griff haben, das schon, aber das ist etwas anderes als denken. Gefühle zeigen ist etwas, das ich nicht gebrauchen kann. Im Beruf nicht, wo ich alles daran setze, mit den Gefühlen zu spielen, ich meine, die Gefühle zu spielen. Und im restlichen Leben auch nicht. Ich habe immer gesagt: Es geht mir gegen den Strich, mich zu verlieben. Ich will kalt, nackt und in höchster Intimität vor dir stehen. Und doch werde ich nie abhängig sein von dir. Schmink dir das ab!
– Dann verlaß mich!
– Nur deshalb?
– Weshalb? Jetzt hab ich ganz vergessen, wo ich eigentlich bin.
– In meinem Bett. Und du kriegst ihn nicht mehr hoch. Aber macht nichts.
– Sicher?
– Ganz sicher. Natürlich, Leistung zählt. Aber überall, wo etwas geleistet wird, wird zur selben Zeit auch so viel nicht geleistet.
– Oh mein Gott, Majestät, ist immer alles so kompliziert, wenn ein König Lust auf Liebe verspürt? Da ist es doch für uns Schauspieler viel einfacher: eine Geste, ein Blick, und schon –
– Tun Sie mir diesen Gefallen: Töten Sie mich!
– Ich töte Sie doch schon. Indem ich Sie am Leben halte. Und Sie langsam zusehen müssen, wie die Liebe vernichtet wird. CUT!
– Verlaß mich!
– Liebst du mich nicht mehr?
– Ich liebe MICH nicht mehr. Weil ich von dem, was ich mir mal erträumt habe, von der absoluten Perfektion, Lichtjahre entfernt bin. Und deshalb will ich verlassen werden, jetzt sofort, verlaß mich, damit ich mich endlich daran begeben kann, mich zu optimieren. Ich werde endlich wieder allein sein und die Welt da draußen wieder zu dem machen, was sie für mich sein soll. Meine Haut wird strahlen. Mein Blick wird andere gewinnen oder in ihre Schranken weisen. Und meine Wirtschaftsordnung wird sich in den Bildern, die wir von Liebe haben, fortpflanzen. Mein Glanz ist von Politik nicht zu trennen. Aber kann wenigstens das Politische sich da raushalten?
– Nee. Geh, geh und geh bis zum äußersten. Keiner von ihnen ist nur halb so viel wert wie du. Du hattest recht, immer nur Ja zu sagen, dich immer nur zu bedanken, aber jetzt werden sie dafür bezahlen.
– Indem ich ihnen alles an Liebe entziehe. Denn nur so funktioniert die Ökonomie: Wenn du jedem deine Gefühle vor die Füße wirfst, sind alle überversorgt, und keiner will damit noch was anfangen.
– Würde es dir was ausmachen, wenn ich mich in dich verliebe? Oder wäre das lächerlich?
– Liebe ist doch nicht mehr als zwei Menschen zusammen in einem Bett.
– Doch sie IST mehr! Wenn ich auch nicht weiß, warum. Wenn ich auch nicht weiß, wie Liebe und dieses Mehr, diese Verpflichtung miteinander verbunden sind. Sicher ist nur: Niemand kann so eine Verpflichtung erfüllen. Und das brauchen wir.
– Du willst meine Liebe für das moralische Projekt einspannen, das du dein Selbst nennst? Jeder von uns ist für sein eigenes Leben verantwortlich, sonst nichts, Dorian. Nur für sich selbst und für niemand anderen.
– NEIN! Der Unterschied, der in mein Leben kam, weil du und ich auf einmal zusammen auf die Dinge sehen. Und wir KÖNNEN eben nicht mit einem Blick sehen, so sehr wir auch wollen, es sind immer zwei Blicke, zwischen dem einen und dem anderen sitzt dieser Unterschied.
– Aber wenn du auch nur über die Straße müßtest, um zu mir zu kommen, wär dir das zu viel. Alles muß nach fünf Minuten wieder verstaut werden können im Handschuhfach oder im Computerpostfach. Und nach diesen fünf Minuten bist du wieder frei. Niemand macht dir Verbote. Erst mit dieser scheinbaren Freiheit band er mich immer fester. Dieser schöne alte Mann, der immer jung wirkt.
– Und den wir alle konsultieren, wenn wir wissen wollen, was gut ist und was schlecht, wen wir hassen sollen und wen nicht. Dieser alte durchökonomisierte Ökonom. Verlaß mich nicht für diese Liebe, ja?
– Letztlich kannst du dich nur auf dich selbst verlassen, wenn du wissen willst, ob du liebst. NICHT: ob du jemanden liebst. Sondern einfach nur so liebst. In die Leere hinein. Die nie gefüllt werden wird. Auch wenn du noch so sehr auf Ressourcen zurückgreifst, von denen du glaubst, sie kommen aus dir, dabei sind sie nur Müll, angesammelter Schrott, den du gar nicht selbst produziert haben kannst, so viel ist das, doch du denkst, es sei das große Gefühl. Leidenschaftliche Umarmungen, die nur leidenschaftlich sein können, weil auch diese Umarmung uns trennt. DU STEHST DA UND ICH STEHE DA, JA?!
– Ich seh dich an, und ich könnte weinen, weil ich so müde bin. Müde, dich zu lieben. Müde, weil ich immer so liebevoll und erreichbar bin. Und du mich deshalb nicht liebst. Ich habs gewußt. Hab versucht, es vorwegzunehmen, damit du da bist, wo ich jetzt bin.
– Hör auf, zu reden! Es ist unsere letzte Nacht.
7 Maßnahmencontrolling
Neulich, im Showroom: Ich wollte noch arbeiten und nebenbei einen Film sehen, diesen Sechzigerjahrestreifen aus Italien, mit dem ganz jungen Helmut Berger. Nur einen Klick entfernt. Dachte ich. Doch ich klickte und klickte, und: nix. Das Ding war im Netz nicht zu finden, nicht legal und auch nicht illegal. Und dann sah ich: Der Streifen wird laufen. Heute Abend wird der in einem Kino ganz hier in der Nähe laufen. Und ich dachte: Warum nicht? Du hast schon so lange nichts mehr im Kino gesehen, immer nur hier drinnen, auf dem flachen Screen, jetzt wirds Zeit. Eine Stunde später war ich allein. Oder nein. Eben nicht allein. Ich saß dort, als einer von vieren oder fünfen, und ich wurde nervös. Ich konnte mich einfach nicht von einem Gedanken befreien: Warum muß ich hierherfahren, um diese Bilder zu sehen? Warum zeigen sich diese Bilder nicht von allein, so wie alle anderen auch? Wollen die nicht angeschaut werden, oder was? Da saß ich nun, die vierfünf anderen um mich herum, und auch wenn wir nicht nebeneinander saßen, saßen wir zusammen, uns gegenüber der Film. Und der schaute zurück. Und deshalb war ich zurückgekommen. Damit die Bilder mich anschauen, und ich schaue zurück, und ich schaue sie an, und sie schauen zurück, und weil sie nicht nur mich anschauen, wußte ich: Ich bin nicht allein. Auf diese seltsame Art, die ich fast vergessen hatte, waren wir alle da, die anderen Zuschauer und ich und die Bilder dieses Films und all die Menschen in den Bildern dieses Films. Und als ich im Bett lag, drei Stunden später, war ich immer noch nicht allein. Dabei ist es doch das, was ich an meinem Leben so mag: Daß ich immer allein einschlafen kann, nie stört mich ein Atem neben mir.
– Ich danke Ihnen, nur was daran ein Abschlußbericht für das Team gewesen sein soll, Abschluß für den Consultingprozeß, der nun hinter uns liegt, ist mir schleierhaft.
– Vieles, was ich heute gehört habe, bleibt mir merkwürdig schleierhaft. Zum Beispiel dieses Gefasel von Moral.
– Die besten Ratschläge sind und bleiben schleierhaft. Der Rat ist so unwägbar wie die Tat, die diesem Rat folgt. Und so ist der Ratschlag von seinen Konsequenzen abgelöst, unabhängig, oh ja, ich bin endlich nicht mehr abhängig von denen, die mich für meine Kackratschläge bezahlen. Was sehen wir denn auf dem Screen?
Elend. Vorher war Helmut Berger auskunftsfreudig wie nie und hat uns allen alles erzählt: Alter, sexuelle Aus- und Abschweifungen, Vermögensstand. Tausend unterschiedliche Versionen eines Lebens. Ein Elend, erzähltechnisch. Erst wenn die Menschen es schaffen, sich zu berühren, entfaltet sich diese einzigartige Schönheit in den sinnlichen Raum der Welt. Und was wird berührt? Das Image. Das dieses Elend aus tausend Erzählungen in sich zusammenführt. Und sagt: Dieser Schauspieler ist NUR Glanz! Mit Politik hat er gar nichts am Hut. Aber kann ein Schauspieler, der in seinen Filmen immer wieder mit Politischem konfrontiert wird, sich davon so distanzieren? Wenn ja, wie? Und wenn nein, wie und warum nicht? Und was, wenn beides? Ludwig, der Politik sein soll, aber nur am Glamour arbeitet. Und der sich in diesen Glamour zurückzieht, um sich nicht mit anderen auseinandersetzen zu müssen. Wieso soll ich mich auch auf andere beziehen? Die zerstören mich. Ja, ich zerstöre sie auch. Und sie zerstören das Bild, das ich hab, von mir. Lieber verstecke ich mich hinter einer Spanischen Wand und spreche nur durch diese Wand mit dir. Ich will nicht wissen, daß es andere geben muß, damit es mich gibt. Ich will so groß sein, daß ich jetzt schon legendär bin, so als wär ich schon tot. Helmut Berger als junger Mann ohne Gegenwart und als alter Mann, der nur noch von seiner Vergangenheit wissen will, von der Gegenwart nichts. Und der dennoch so kryptisch redet und so chronisch pleite ist, daß er in jedem Moment sagt: Ich bin NIE da, wo ich bin. Helmut Berger als das gewissenlose Empire und als das Gegenteil, als etwas, das nicht mehr vermarktbar ist, schon gar nicht global. Keiner ist gern alleine.
– Ups. Das ist die Folie mit meinem Lieblingsmotto, das nicht nur über meinem Leben, sondern auch über meiner Arbeit stehen könnte: Werde, was du bist. Ein Zitat von
– Hildegard von Bingen?
– Von Heidi Klum! Ein Widerspruch? Ja, und? Keiner von uns beiden ist an seinen Widersprüchen zugrunde gegangen. Je mehr wir aus dem Leim gehen, desto besser funktionieren wir.
– Dream on, bitch. Und während du deine Neoliberalozombieträume weiter träumst, werde ich dir unser Teamfoto über den Schreibtisch hängen und es damit endlich vervollständigen, dieses Bild, das ich kurz vor der Aufnahme verlassen hab.
– Davon kommst du doch nicht mehr los. Eine Gesellschaft, die heute gar nicht mehr existiert. Und wenn es sie noch gibt, dann danke Gott, denn du bist einer der letzten, die davon profitiert haben.
– Oh nein, mein Lieber, es gibt sie noch, und sie ist heute viel gefährlicher, als sie je gewesen ist. Weil sie sich tarnt.
– Auch Sie, Professor? Auch Sie wollen behaupten, daß unsere wirtschaftliche Ordnung nicht zwingend ist, sondern Zufall? Ich weiß genau, daß es keine Zufälle gibt.
– Ich weiß genau, daß es vielen besser paßt, wenn es mehr Moral gibt. Denn dann kann ich jeden, dessen Nase mir nicht gefällt, stolpern lassen, über irgendeine Affäre, und ihn danach zum Feind machen, der vernichtet werden muß. Sobald dein Bild seinen Glanz verliert, bist DU verloren.
– Deshalb war ich fixiert. In jeder Geste war ich fixiert, aber eben nicht auf diese Geste oder die nächste, nicht mal auf das, was die Regisseure daraus machen würden, nur darauf, daß bald wieder ein anderer eine andere Geste von mir verlangen würde, die auch wieder fixiert wäre auf das, was kommt.
– Vergoldete Energie!
– Ich habe alles, was mein Bild macht, nachgeäfft. Und jetzt BIN ich dieses Bild. Mehr nicht. Es gibt keinen Unterschied mehr, alles an mir befindet sich in diesem Bild. Ich bin nur noch das. Als ich den Denver-Clan drehte, riet man mir, oberflächlicher zu sein. Ich fragte dann immer, wann endlich die echten Schauspieler kämen. Und auf einmal schaue ich an mir runter und bemerke, daß ich durchsichtig war. Tag für Tag wurde ich mehr aus der Serie rausgeschrieben. Ich will nicht mehr.
– Aufwachen, Helmut, aufwachen! Bist du in Trance? Viele innere Suchprozesse im Coaching geschehen in einer leichten oder vertieften Innenschau, einer Art Tagtraum, Intuition, Imagination oder Trance. Und in der bin ich seit fünfzehn, zwanzig Jahren. Ohne diesen Traum zu teilen, ein Bild aus anderen Zeiten. Mit fünfundzwanzig war ich der vielversprechendste Schriftsteller meiner Generation. Heute bin ich vergessen.
– Man merkt, daß du zum ersten Mal bei einer Hinrichtung bist. Da kommt das Gerüst.
– Laß mich los! Nur weil ich sage, was gut ist und was schlecht, moralisier ich doch nicht!
– Du hast mich kaputtgemacht. Noch kaputter, als ich schon war. Du hast mir immer und immer und immer wieder gesagt: Du bist zu schwierig. Bis es in der letzten Zelle meines Körpers angekommen war. Du bist SO schwierig! Diese Ordnung. Sie hat nie verstanden, daß ich sie liebte. Daß ich sie nötig hatte. Und ich hatte sie unsagbar nötig.
– Ich war ein Rätsel, und ich würde ein Rätsel bleiben, da half kein Rat.
– Wenn man gar nicht merkt, daß ein Gespräch schon zuende ist.
– Warum gehen wir nicht in eine Disco und tanzen? Wir haben hier doch genug gebüßt.
II Der charismatische Berater
– Wo sind wir? Ist das nicht derselbe Palast, in dem wir vorhin waren?
– Ganz genau, und draußen sind schon die Sprengladungen angebracht, damit all das zu Staub wird, zu Staub, der herumwirbelt, ewig, während meine Eingeweide schon längst dabei sind, zu zerfallen.
– Herr Berger, sind Sie wieder drauf?
– Ich bin clean. Ich bin gar nicht aufgestanden, ich hab gar nicht geschlafen, ich bin gar nicht rein, ich war immer schon drinnen.
– Wollen wir mal ne MAZ angucken, nen kleinen Lebensrückblick?
– Naaa, bitte nicht.
– Ausschnitte aus Ihrem letzten Film?
– Nein, den hab ich vor zwei Jahren schon gesehen.
– Der Film ist doch nicht mal n halbes Jahr fertig.
– Das weiß ich alles nicht. Will ich nicht. Sein. Will kein Junkie der Melancholie mehr sein. Lassen Sie uns jetzt allein.
– Äh, UNS?
– Romy! Romy.
– Was flüstern Sie?
– Die Romy. Stand da.
– Das klingt gar nicht nach Ihnen. Ihre Stimme.
– Ich seh sie noch vor mir.
– Ihre Stimme schwillt an, als wär sie viel mehr.
– Wie sie da stand.
– Der Lärm tausender Stimmen, ein Tosen, ein übergelaufener Fluß, der mich wegreißt, AAARGH!
– Das Gesicht: durch die Schminke blaß oder durch das Schminken, vier Stunden, jeden Morgen. Die Kleider: geschnürt. Darüber: tausende Überwürfe aus Spitze. Der Kopf: nach hinten geneigt, kiloschwer müssen die Haarteile gewesen sein. Da steht sie, während der Pause des Drehs, muß sich an eine Tischplatte lehnen, um nichts in Unordnung zu bringen, alles genauso zu lassen, wie es ist. Und ich trete ihr gegenüber, wie gesagt, es ist Pause, und ich will noch einmal den Dialog üben, den wir gleich drehen. Gleich. Gleich werden wir ihn drehen. Aber nun müssen wir ihn erstmal in die Realität umsetzen. Ein kurzes Stolpern, über eine Teppichfalte, und Romy Schneider will Helmut Berger auffangen, doch ihr kiloschweres künstliches Haar hält sie zurück, nicht genug, so daß sie fällt, und er fällt, beide fallen aufeinander zu, um gegeneinanderzuprallen, um aneinander, ineinander! Nein, so hat es nicht angefangen. Liebe als etwas, das immer schon angefangen hat, immer vorher schon. Aber erst, als ich diese Filme nicht mehr drehen wollte, als mein Stiefvater mich einen Haufen Scheiße nannte, einen fotogenen Haufen Scheiße, als alle sagten: Wie kannst du dich von deinem Publikum abwenden, daß dich so liebt, wie du bist, Sissi? Erst da fing es wirklich an. Nein! Doch. Doch, Sie haben sich tatsächlich verändert. Sie sind schöner geworden. Der schönste König in ganz Europa! Man sagt, daß Sie mir immer ähnlicher werden. Und doch spiegelt nichts an dir irgendwas an mir. Deine Bewegungen und meine sind nie synchron, bis in die Zuckungen unserer Nerven hinein sind sie es nicht. Und werden es auch nie sein. Ich hab ja lange, viele Jahre, drei Filme pro Jahr gemacht. Fünfundzwanzig, so was. Jeder Film war eine Affäre, und ich wollte jede Minute alles und gab in jeder Minute alles, total und ausschließlich. Ich verschwinde einfach, wann ich will. Vor aller Augen. Wenn auch das Unbewußte nicht mehr existiert, wenn es weg ist, verschwinden Sie, und das geht ein, zwei, drei, vielleicht sogar vier Filme, aber dann fängt man ja an, nachzudenken, nehm ich an. Ich jedenfalls. Ich schaue mir nie die Muster an, immer erst alles, wenn der Film fertig ist, durchgebracht. Ich hab alles durchgemacht. Es war Spaß. Ich habe immer Figuren gespielt, die in die große Politik verstrickt waren. Und mich privat nie dafür interessiert. Bei manchen Kollegen war das fatal. Wie zum Beispiel Frau Jane Fonda, die, die sich voll und ganz einsetzt, für die Politik. Aber sie macht nur das jetzt, sie übt ihren Beruf nicht mehr aus, und da, ich will darauf kommen, darauf hinkommen, daß ich in den letzten Jahren in Tel Aviv, in Italien, in England, in Amerika gearbeitet hab, in Frankreich gearbeitet hab, und die Arbeit einen so auffrißt, daß ich nicht fähig bin – Ich war nie ein Politiker. Ich geh auch nicht wählen. Visconti wollte immer, dass ich mich mit Politik beschäftige. Visconti begegnete mir mehr als kühl. Und ich wußte warum: Er war verliebt. In Alain. Und bald auch in mich. Und ich in ihn. Er hat mir Disziplin beigebracht und, daß du immer wieder neu an dir arbeiten mußt. Das hat er uns beigebracht. Und er hat mich von meinem Trauma erlöst und Elisabeth spielen lassen, eben nicht Sissi: Ich werde auf Sie warten. Auch wenn Sie mir nie etwas versprochen haben. Ich hasse es, wenn jemand auf mich wartet. Ich hasse es, wenn jemand dasteht und mich so ansieht, als wollte er sagen: Los, schlüpft aus dem Kleid, aus der Perücke, aus der Rolle, komm zurück. Ich will nicht zurück. Ich bin abgetaucht. In mein Spiel. Es gibt nichts, was mir besser tut. Eine Trance. Sie haben sich in Ihrer Trance die Hand aufgeschnitten. Egal, ich will weiterdrehen. Ich nicht. Wenn ich noch einen deutschen Film machen muß! Das ist Selbstmord. Deshalb spreche ich auch ein leicht verschobenes Deutsch. Seit ich in Italien gelebt habe und eigentlich auf jeder Yacht, jedem grünen Hügel, jedem Trip dieser Welt, spreche ich diese seltsame Sprache, als wär sie nicht meine. Bergerdeutsch. Deutsch als Fremdsprache. La Langue de la Berger. Nenn mich nicht so, Romy. Vielleicht liegt es daran, daß ich so lange weg war und sechs Jahre sehr wenig und sehr selten Deutsch gesprochen habe und, ich mein, man steht ja auf einer Bühne dann, ich kann ja, die Angst, das Lampenfieber, das ich hab – Sie sollen weg! Bitte! Weg! Es ist besser, man gewöhnt sich im Leben an den Verlust. Man erspart sich viel Traurigkeit. Mit denen, die ich arbeiten wollte, sind ja alle tot. Aber es ist mir nicht genug. Alles ist nicht genug. Und ich wollte immer von allen alles. Die Romy war für mich auch ein Vorbild, weil sie von einer Rolle in die andere springen konnte. Sie konnte, ja, sie konnte auch mich spielen. Sie war jemand, in den die Leute Dinge hineintaten, die es gar nicht gab. Sie konnte sich nicht trennen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ein Film am Ende war. Sie spielte weiter, auch als die Kameras schon eingepackt waren, die Scheinwerfer heruntergeschraubt und zusammengeklappt, als die anderen Schauspieler abgereist waren, der Film schon längst wieder aus den Kinos herausgelaufen war, die Seiten des Drehbuchs vergilbt, die Spulen zerfallen, auch dann noch spielte sie. Immer wieder diese verspätete Rückkehr aus einem anderen Leben. Du kehrst zurück, schaust dich um, und von denen, die vorher da waren, ist niemand mehr bei dir. Was heißt da allein? Ich bin ja nicht allein. Ein Privatleben führen. Das kann ich nicht allein. Außerdem möchte ich endlich in Ruhe gelassen werden. Alle, die so viel Interesse an dir haben, angeblich, wollen ja nur, daß du dich genauso verhältst, wie man es erwartet von dir. Das habe ich nie getan. Doch, eine Zeitlang schon. Nein, nie. Mein Leben war keine Serie von Belanglosigkeiten. Es war eine einzige Belanglosigkeit, die nichts von sich selbst verstand. Wir haben gespielt, wie es halt so kam, sagten meine Eltern, und ich wollte das nicht, und ehe ich mich versah, war mein Leben genau so, in dieser Industrie, die nur vordergründig unpolitisch war, Berge und Liebe als Heimat. Wenn ich jemanden liebte, erstickte ich ihn. Warum? Ich wollte leben. Mit Alain leben. Das hätte auch auf einem Hinterhof sein können. Aber gleichzeitig wollte ich Filme drehen. Immer hin und her, hin und her. Alles hin, hin, hin. Ein Satz reicht, um mich kaputtzumachen: Du bist zu kompliziert. Nur dieser eine Satz hat gereicht, um mich für Jahre zu einem Wrack zu machen, und erst langsam, langsam kann ich mich wieder aufrichten. Was kann ich dafür, daß du und deine Liebe zu mir, daß ihr so unterkomplex wart? Oh Mann, ich bin lächerlich. Aber ich will Theater spielen. Ich möchts wirklich. Ich hab eine Scheißangst davor, aber ich möchts. Hast du da nie darüber nachgedacht? Nie. Weil ich nie gedacht habe, weder beim Drehen noch beim Sitzen im Kino. Beim Drehen war ich immer nur Gefühl, durch und durch, und habe damit jegliche Vorstellung von Männlichkeit als purer Vernunft widerlegt, ohne es zu wollen. Und im Kino? Auch da habe ich nie gedacht. Warum auch? Wenn du im Kino sitzt, also IM Kino, nicht zuhause vor der Beamerleinwand, denkst du doch nicht! Der Film denkt. Für dich. Früher dachte ich, Kino heißt vor allem: zu sehen geben. Und das, so dachte ich, muß der Grund sein, warum ich das Kino BIN. Ich gebe euch zu sehen. Ich bin nicht mehr als DAS. Ein fotogener Haufen Scheißzellen. Das dachte ich. Aber Kino gibt nicht nur zu sehen, es sieht selbst, es denkt selbst und es denkt auch für dich, und es dauert, es dauert so, daß du dir erst wieder bewußt wirst, wie du selbst dauerst. Und gedauert hast, immer schon. Aber vergessen Sie all die Dinge, die längst vorbei sind. Seien Sie großmütig und versöhnlich. Ich weiß, niemand wird Ihnen einen Rat geben können so wie ich. Ich habe Sie immer begleitet. Bis in die Vorführräume habe ich sie begleitet, damit niemand die Filmkopien entwendet oder aus Versehen verbrennt. Ich weiß, daß sie mich gebraucht haben, und ich war da für sie, um ihnen, den Filmen, in der Zeit, in der sie liefen, die Möglichkeit zu geben, die Zuschauer zum Zusehen zu zwingen. Zum Zuhören des Monologs, den Ludwigs Vertrauter Graf Dürckheim ihm hält: Die Freiheit, die sich auf Privilegien ruht, hat nichts zu tun mit der echten und wahren Freiheit. Wir leben in einer Welt ohne Unschuldige. Ich bin ein Soldat, den man auf dem Schlachtfeld allein gelassen hat. Ich bin unliebbar. Für mich und für andere. Unlebbar. Weil die sind alle weg. Die einen leben auf Ibiza, die anderen auf Mallorca, die anderen in Marbella, New York. Man kommt sich schon etwas verloren vor. Aber wer das Leben wirklich liebt, Majestät, der darf es nicht mit der Suche nach dem Unmöglichen verbringen, sondern muß es mit unendlicher Umsicht meistern. Ich kann das nicht! Es ist nie zu spät, das Unmögliche zu wollen. Auch wenn man es nie erreichen kann. Niemand kann das. Folgen werden Ihnen also nur die, die Freiheit als Aufforderung verstehen, sich einem Leben der Lust hinzugeben, ohne jede moralische Hemmung. Nein, das können Sie nicht wollen. Doch, das WILL ICH! Will ich nicht. Das wollte ich. Doch je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, ich kann das, was war, nicht immer vergessen und ersetzen, durch den Augenblick. Sex ohne Liebe zum Beispiel, ohne den, den du geliebt hast, den einzigen Menschen, den du je, Sex ohne den – C’est rrrien! Ich bedauere nichts. Ich bin nie zufrieden. Ich beneide Sie. Und dann hat Marlene Dietrich mir zugeflüstert, als sie an meinem Tisch vorbeikam, bei der Preisverleihung: Von wegen Jungfrau, ein ganz ausgekochtes Luder bist du. Und ich war beides. Ebenso wenig wie die Dinge gewiß sind, sind es die Menschen. Sie tauchen auf und verschwinden wieder in Schächten, Koffern, Kanälen. Immer wieder fuhr die Kamera hinweg über uns, schnitt uns in Stücke, obwohl wir so fantastisch ausstaffiert in den Räumen standen und darauf warteten, daß es um was ging? Um UNS. Aber es waren die Räume, die besichtigt werden sollten. Wie könnten auch wir das Archiv sein, das so ein Film errichten will? Das ist da seltsame: Obwohl wir so maßlos, so leer und unbestimmt sind wie die Zeit, die in uns lagert, eine ökonomische Zeit, denn alles in unserem Leben soll ja ökonomisch sein, obwohl das so ist, ist kein Platz in uns. Es ist kein Platz, und doch sind wir leer. Es war teilweise für mich sehr verletzend, denn wenn man sich Mühe gibt und weitermachen will und, und, und anderes, neues machen will, und immer wieder liest: die Sissi, die alte Sissi, die Ex-Sissi, die was-weiß-ich-was. Doch keiner meiner politischen Filme wird in Deutschland gesehen, vor allem nicht die, in denen es um die Nazizeit geht. In meinen Nachrufen wird man mich wieder als Kaiserin feiern, und dann erwähnt man noch die Rolle in Viscontis Die Verdammten, in dem ich nie gespielt hab. Sonst hätten wir uns schon früher. Immer, wenn es mir schlecht ging, flüchtete ich mich zu Romy, wir schliefen nebeneinander wie Kinder. Wie Emotion und Spannkraft. Wie Panik und Heiterkeit. Ach, vergessen Sies. Jetzt schon? Nach einem Jahr? Ja, kamen die ganzen Schmerzen raus. Sie wissen gar nicht, was er mir hier vererbt hat. Die Profession. Den Beruf. Die Menschlichkeit. Und zu wissen, wie man schauspielt, vor der Kamera, damit man keine Panik hat. Ich bin wirklich sehr nervös im Moment. Und das ist nicht mein Metier. Wenn ich mir vorstelle, daß das eine Rolle ist oder ein Teil einer Rolle. Dann wär es leichter. Wenn das alles drumherum weg ist, das, was heute so glänzt, was sich als herrschende Ordnung gibt, wenn das weg ist, werden die Illusionen auch weg sein. Am Ende waren die Lügen nicht mehr stark genug, es wurde kalt. Ein würdiges Ende. Ein merkwürdiges. Denkwürdiges. Sollte man einfach aufhören, über diese Erscheinungen des Kapitals zu sprechen? Nicht um sein Regime zu verschleiern. Um es totzuschweigen. Und um alle Energie in dieses Leben zu stecken, das gemeinschaftlich sein könnte, ohne Profite, jedenfalls ohne zählbare, vermehrbare. Die Hauptsache ist, man weiß es, daß das von heute auf morgen vorbei sein kann. Ich wußte das sehr früh, und das hilft. Eine Rolle, die mit mir überhaupt nichts zu tun hat, die will ich spielen! Wenn ich zu sehr auf das vertraue, was ich fühle, denke, also das, wovon ich schon weiß, daß ich es fühle und denke, mache ich alles falsch. Ich stelle etwas her mit meinem Kopf und nicht mit meinem Körper. Was wäre das für ein Film geworden, wenn Fassbinder mit mir gedreht hätte! Die Ehe der Maria Braun, mit Romy Schneider. Oder: mit La Berger? Naaa, das war mir alles zu dreckig, die Drogen, die Lederklamotten. Ich mache alles falsch. Als ich in dieser Talkshow einen Bankräuber die Hand auf den Arm legte und sagte: Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sehr, fielen alle über mich her. Daß er vorher gesagt hatte, daß es für ihn politisch sei, zu streiken, aber nicht, Willy Brandt etwas an den Kopf zu werfen, das wird weggeschnitten. Ich werde politischer gemacht, als ich bin, nur um hinterher zu sagen: Ein Star darf nicht politisch sein. Ulrike Meinhof: die hätte ich mehr als nur spielen können. Geben Sie mir nur noch ein paar Jahre. Geben Sie mir mal etwas Zeit, das Publikum zu sehen. Ich glaube, das Publikum ist viel interessanter als Sie. Nein, keine Fotos machen, bitte nicht. Sagen Sie mir einfach, wie ich spielen soll. Daß ich jemanden finden muß, der weder mein Mann ist noch meine Familie, der von außen kommt und der mir sagt, was ich machen muß, der mir aus dieser Situation heraushilft, diesem Ich-weiß-nicht-was-ich-tun-soll. Der mir Luft gibt. Mein Sauerstoffzelt war Luchino Visconti. Der ewige Jüngling bleibst du, der ewige Frühling. Man sollte senil werden, nicht mehr denken, völlig abstumpfen. Hab ich doch gemacht. Alles, alles, an was ich früher mal geglaubt habe, ist mir schnurz und schnuppe, ist mir völlig egal. Morgen ist morgen, heute ist heute. Was kommt, kommt. Ich habe nie Projekte. Wenn ich ein Projekt hätte, wäre ich nicht hier. Der Vater schlug mich, weil ich mich verkleidete. Weil Schauspieler ein Bettelberuf war für ihn. Ein Fall für die Heilsarmee. Und so ist es am Ende auch. Die Millionen sind irgendwo angelegt, irgendwo, wo ich nie mehr hinkomme. Die Millionen haben es angelegt darauf, mich zu ruinieren. Die Liebe und der Film waren mein Ziel. Sie wollten geliebt werden, jaja. Ich wollte nicht geliebt werden. Ich wollte lieben. Und es war mir egal, ob ich zurückgeliebt wurde. Ich mußte ihn lieben. Wir liebten uns, aber im Grunde waren unsere Karrieren unser mächtigstes Ziel. Sagte Alain nach meinem Tod. Bei einem Dreh wurde ich fast von einem Scheinwerfer erschlagen, der Angst hatte, ich könnte mehr strahlen als er. Dabei war es nur Lampenfieber. Vererbt. Mein Vater starb daran. Ich hab noch nicht aufgegeben. Nur MICH habe ich aufgegeben, um irgendwo anzukommen, wo nicht mehr alles ICH ist. Ich bin todkrank. Und ich verkaufe meinen Tod an eine Fernsehshow, in der alle miterleben, wie ich sterbe. Und dann fliehe ich. Würden Sie denn zu meiner Beerdigung kommen? Alle Nutten Roms in Schwarz und tiefverschleiert. Ein einzigartiger Aufmarsch von Witwen. Und nicht zu vergessen: Scharen von Wucherern, Rauschgiftsüchtigen, Lesbierinnen. Und eine Abordnung von Schwulen. Und die werden einen Choral singen, der ungefähr so gehen wird: Fern blieb ihm das Reale! / Denn alles Reale hätt / sein Handeln gestört / und ihn erinnert daran, / daß er versuchte, in einem Traum, / in einem wundervollen Traum / und in der Wirklichkeit / zu leben, leben! Alle waren da. Und alle trugen dunkle Sonnenbrillen. Nur ich nicht. Wahrscheinlich war ich in Trance. Bis heute. Ja, auch heute noch bin ich in Trance, um mit euch sprechen zu können. Das genügt nicht. Das eigene Bild spielen, nur um möglichst weit weg von anderen zu sein, von anderen und von dir, das genügt nicht. Man muß etwas leisten, heutzutage, und wir haben sehr viel geleistet, sehr viel gearbeitet daran, das zu sein und zu werden. Die Länge der Filmstreifen, die wir damals weggedreht haben, die waren danach für nichts anderes mehr zu gebrauchen, nur noch dazu: entwickeln, abtasten, anschauen. Die Länge der Wege, der sozialen Wegstrecken, bis etwas erreicht ist. Aber nein, nicht mal Energie, keine Energie, nicht mal fürs Spazierengehen oder irgendetwas Banales, Normales, Simples, wasweißich, Alltag. Das ist ja wichtig. Man muß ja. Wissen. Was der Alltag ist. Wir haben uns nie Gedanken gemacht über meine Vergangenheit, woher ich komme. Außerhalb meines Berufs hatte ich nie Interessen, und wenn, nur oberflächliche. Dieser Beruf ist so gefährlich, wenn man ihn so lebt. So liebt. Liebe bedeutet auch Pflicht, die Pflicht, das, was vor einem liegt, nicht allein zu sehen, nicht allein zu gehen. Die Liebe ist ein seltsames, bizarres Wesen. Unergründlich. Sprunghaft. Unterbrochen. Verschleiert. Verspielt. Früher, zu jener Zeit, als noch jede Liebe mit einem Blick begann, schrieb der König Briefe, die von Zärtlichkeit überströmten. Inzwischen kann er nur noch zählen: Nachts sieben Tage vor der bestimmten Zeit das gnädig Zugelassene vorgenommen. Darf vom 30. Juni auf 1. Juli nicht, erst wieder vom 31. Juli auf 1. August. Von nun an den Begierden der Sinnlichkeit nur noch nachgeben, wenn es unbedingt notwendig ist. Dann immer seltener, immer, immer seltener. Das ganze Jahr nicht mehr küssen. Zum letztenmal berührt. Sie ist einfach weg, meine Fantasie, die ich doch gerade von der Liebe gelernt hab. Nein, nicht weg. Inzwischen hilft sie mir, alles zu kontrollieren, meine Gedanken, meine Erfahrung, meine Bilder. Menschen kommen an. Menschen fahren ab. In Kutschen. Jemand geht eine Freitreppe hinauf. Jemand stürmt durch ein Portal. Dazu Wagnermusik oder Schumann. Die Bilder kommen nicht hinterher, kommen nicht da heran. Die Menschen, die da ankommen und abfahren, wollen etwas, doch es zu begehren, dazu können sie sich nicht durchringen. Nichts kann durchdringen. Wie sagt man? Ach ja: Bleiben kann und darf es nicht wie es jetzt steht, weil es zum Verzweifeln wäre. Sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß es aus ist, ist unmöglich. Ich habe schon mal gesagt: Ich bin NICHT unmöglich. Nichts an mir ist das. NEE! Wir haben uns daran gewöhnt. Wir Bilder. Daran gewöhnt, daß wir da sind, immer da sind, überall. Niemand muß uns mehr zeigen. Wir erscheinen. Und alle können alle von uns sehen. Als hätten sie die Augen jederzeit an jedem beliebigen Platz. Hören Sie doch auf, so was zu sagen! Jemand muß es doch sagen. Jemand muß auch über die Toten sprechen, ohne diejenigen zu verletzen, die sie hinterlassen haben. Jemand muß sagen, welche Dinge möglich werden sollen, auch wenn sie es nie schaffen werden, muß da jemand sein, der sagt, daß sie möglich sind. Aber ich versuche immer, so zu spielen, als würde ich etwas raten, etwas, wovon nur derjenige, der diesen Rat sieht, in meinem Spiel, weiß, was es ist. Ich versuche, so zu raten, daß du meinen Rat sofort auch befragst, einfach nur, indem du da bist, wo ich bin. Dafür versinke ich. Doch wenn ich dann spiele und dieses Spiel widerlegt wird, dann bin ich gescheitert. Komplett. Ich konnte mich nicht mal mehr teilweise zurückziehen. Ich hatte die Chance, vielleicht hab ich sie jetzt nicht mehr. Weil ichs mir selber verpatzt hab. Oder. Oder auch nicht. Ich werde den Tod meiner Mutter verkraften. Und meine Mutter wird meinen Tod verkraften. Es wird alles verkraftet. Auch wenn ich selbst sterbe. Verkraftet! Ich habe für jede Einstellung, jede Szene noch einen Rest von Gefühl in mir, als Reserve. Und wenn die nicht verbraucht wird, schwappt sie über. Seit ich versucht habe, zu sein, was ich bin, habe ich es nie geschafft. Ich kann nicht mal Verantwortung für mich übernehmen. Es gibt eine Forderung an mich, und ich kann sie nicht erfüllen. Das vernichtet mich. Ich zerfalle. Ein Bild aus anderen Zeiten. Ich weiß, was der Ruhm bedeutet und was das Nahen der Nacht. Aber es ist doch nur Kino! Ich kann mich nicht sehen, ich kann mich nicht sehen. Der Abspann. Und mit dem Abspann zusammen kehren Sie zurück in Ihr Leben. Ich hätte so gern noch was zu Ihnen gesagt. Ich hätte so gern noch was gefragt. Jetzt ist es vorbei.
Beraten haben diesen Text [u.a.] innerlich wie äußerlich:
Alain Badiou [Lob der Liebe],
Ulrich Behrens [Ludwig II. Verfall und Agonie eines Königs und seiner Epoche],
Helmut Berger & Holde Heuer [Ich. Die Autobiographie],
Blumfeld [Tausend Tränen tief],
Thomas Brandlmeier [Fantômas. Beiträge zur Panik des 20. Jahrhunderts],
Tinto Brass [Salon Kitty],
Claude Chabrol & Luis Buñuel Jr. [Fantômas]
Massimo Dallamano [Das Bildnis des Dorian Gray],
Serge Daney [Ludwig. Visconti-Liehaber, erneute Mühen …],
Lars Henrik Gass [Film und Kunst nach dem Kino],
Joachim Gehringer & Henning Pawlik [Consulting-Handbuch],
Sergio Grieco [Der Tollwütige],
Robert Holzschuh [Das verlorene Paradies Ludwigs II. Die persönliche Tragödie des Märchenkönigs],
Tom Holert: Regieren im Bildraum,
Eva Illouz [Warum Liebe weh tut],
Michael Jürgs [Der Fall Romy Schneider],
Cordula Kablitz-Post [Helmut Berger. Mein Leben],
Peter Kern [Blutsfreundschaft],
Anne Levy [Content- and Concept-Production],
Thomas Macho [Die Ideengeschichte der Beratung],
Björn Migge [Handbuch Coaching und Beratung],
Christoph Schlingensief [Die 120 Tage von Bottrop],
Romy Schneider [Interviews aus: Je später der Abend, Legenden, Ich kann alles im Film, im Leben nichts, Romy – Porträt eines Gesichts, An meiner Angst werd ich noch einmal sterben],
Alexander von Schönburg [Die Kunst des stilvollen Verarmens],
Tomáš Sedláček [Die Ökonomie von Gut und Böse],
Luchino Visconti [Die Verdammten, Ludwig II., Gewalt und Leidenschaft],
Joseph Vogl [Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen &
Das Gespenst des Kapitals]