
Neulich, on the run: Ich mußte weglaufen, von jetzt auf gleich weg aus diesem Umkleideraum, weil es mich bis hierhin verfolgt hatte, unbemerkt, obwohl ich in jeder Sekunde so darauf achte, daß es nicht schon wieder hinter mir lauert und mich überfällt. Doch da war es. Im Mund eines etwa Dreißigjährigen, der hinter mir in ein kluges Telefon sprach, und noch bevor ich registrieren konnte, daß er mit seiner Nerdbrille, seinem Jeanshemd und seinen roten Badeshorts meinem Stil nicht ganz unähnlich war, hatte mich die leicht zu laute Lautstärke seiner Stimme schon abgestoßen und in dieser Abstoßung festgehalten, gewaltsam. Daß er sich heute Nachmittag mit der Ina treffe, und daß er auch mit dem Leo und der Hannah über das Projekt gesprochen habe, und daß es ganz gut aussehe, und daß er das nur ganz kurz kommunizieren wolle und da wirklich Potential sehe, und daß er schon so einzwei strategische Gedanken habe, wie man das jetzt an den Mann bringen könne, beziehungsweise zuerst mal bei der Ina und den anderen von Talk Of Fame und dann weitersehen, und daß er vorschlage, daß sie spätestens morgen nochmal sprechen sollten, wenn das ganze hoffentlich unter Dach und Fach sei, und, ja, jetzt muß ich auch ins Becken, mein Trainingspartner wartet, also hau rein, bis dann! Und dann, während mein Körper seine Schockstarre langsam löste, um doch zu entkommen, kam noch das aus dem Mund, jetzt in die Luft, nicht mehr ins Telefon, an alle drumherum gerichtet:
Ach, Business,
Business,
Business.
Das dritte Mal hörte ich das Wort mit viel Hall, aus der Ferne, als wären wir in einem riesigen Gewölbe, als stünden wir einige hundert Meter voneinander weg, oder als liefe ich, um von ihm wegzukommen, vor dem ich jetzt schon seit Jahren weglaufe, ohne ihm je entkommen zu können: dem Business. Seit wann hat sich das Business dazu angeschickt, überall einzudringen, selbst in die Umkleidräume von Schwimmbädern, selbst in die Erwartungen an eine Freundschaft, selbst in die kleinen und großen Bewegungen, die man zusammen im Bett ausführt? Seit wann ist sein Schlachtruf so laut geworden, daß jeder Körper, egal, wie er sich wehrt, von ihm ergriffen wird? Der Schlachtruf: BRING IN JEDER SEKUNDE DAS, WAS DIR ANVERTRAUT IST, AN DEN MANN, UND WENN ES NUR DEIN JÄMMERLICHES SELBST IST! Und seit wann – und das ist vielleicht noch schwerer datierbar und markiert den noch viel größeren Bruch –, seit wann sehen die Börsenkurse im Fernsehen eigentlich mehr nach Mensch aus als das, was im Spiegel herumlungert, wenn ich reinsehe? Die Transformation des Geldes durch die Jahrhunderte von Steinen über Münzen und Papier hin zu Plastik, Nullen und Einsen. Und zeitgleich die Transformation derjenigen, die dieses Geld in ihren Händen halten oder hielten, bis das Geld sich in Daten verwandelte, und die Hände, die es gehalten hatten, auch. Hier bin ich: ein klares Profil, das sich dir anbietet, damit du sofort weißt, was du kriegen kannst. Ich bin Marktteilnehmer. Und ja, es IST die Rolle meines Lebens. Und egal, wie sehr ich versuche, sie abzuschütteln, ich werde sie IMMER spielen. Auch wenn ich in andere Rollen schlüpfe: Künstler zum Beispiel, Liebhaber zum Beispiel oder Partygast, immer werde ich das alles nur spielen, weil ich zugleich weiß, daß ich damit einen Markt bediene. Es gibt eine Nachfrage, irgendwo da draußen will jemand, daß ich diese Rollen spiele, und wenn es niemand will, kann ich es auch lassen. Ich brauche diese Aufmerksamkeit, die sich auszahlt, in finanziellen Werten oder meinetwegen auch in kulturellen oder sozialen und am besten noch in Liebe. Und genauso werde ich berechnen, was nötig war und was nicht, wenn wir erst zusammen sind. Wie ich dann Soll und Haben gegeneinander aufrechnen werde, vor allem, was deine Gefühle angeht! Immer gebe ich mehr, als ich bekomme! Und du bekommst immer mehr, als du gibst und geben kannst, und das einzige, was du nie bekommen wirst, bin ich. Weil ich immer draußen stehe und am Markt teilnehme, auch wenn das dieser Liebesmarkt zwischen uns ist. Ich war mal was anderes. Ich war mal tausend andere Dinge und Menschen und war Benutzer des Dafürseins, des Dagegenseins und des Mittendrinerscheinens. Jetzt bin ich außen vor, und zwar nur noch. Ich habe es gelernt, es wie das Geld zu machen: Sei da und halte die, die du bezahlst, auf Distanz! Und obwohl ich außen vor und von allem so weit entfernt bin – weil ich immer die Möglichkeit haben will, die Geschäftsbeziehung platzen zu lassen–, sehe ich nicht mehr, daß diese Welt aus Hypotheken und Aktienwerten, die uns umgibt, gar nicht schon immer da war. Warte mal, das IST gar nicht die schöne Natur um uns herum, sondern eine geschichtlich gewachsene, total konstruierte Welt? Dabei habe ich mich so wohlgefühlt in diesem Dickicht aus Daten, in dem alles im Überfluß zu haben ist. Aber WEIL das so ist, dürfen nur ganz wenige an diesem Überfuß teilhaben, sonst wäre es ja kein Überfluß mehr. Wenn ich mit meiner Liebe nicht haushalte, will auf einmal jeder was abhaben. Stellt euch an der Schlange an! Gut. Und genauso wie das Geld als Zeichen für Reichtümer steht und zugleich deren Wert aufrechterhält, ist die Liebe nur noch ein Zeichen für die Reichtümer, aus denen sie mal bestand. Und sie versucht, deren Wert aufrechtzuerhalten, doch was dabei herauskommt, klingt nach: Sometimes the perfect relationships are the impossible ones. Wir sind selbst die Märkte geworden, die am meisten spekulieren: Wir sind mehr wert, als wir eigentlich sind, weil wir eine Zukunft besitzen wollen, die mehr enthalten soll, als es diese Gegenwart möglich machen kann. Aber nur weil wir mehr geben als uns selbst, können wir von dieser Zukunft Besitz nehmen und zugleich von denen, die nicht mehr geben können als sie selbst, die nicht mal sich selbst geben können, gar nix geben können. Ja mei! San die deppert? Wir sind Märkte, die sich endlich von aller Rücksicht befreit haben, die genau wissen, daß jede menschliche Facette, alles, was irgendwo an Emotion, Geste, Gewissen aufblitzt, auszubeuten ist. Und während wir das endlich verinnerlicht haben, sind die Märkte, die uns umgeben, schon wieder einen Schritt weiter. Oder einen Schritt zurück? Oder doch einen weiter? In jedem Fall erscheinen sie viel mehr wie Romanfiguren des 19. Jahrhunderts als wir. Sie sind auf einmal nervös, hysterisch, zögernd oder zaudernd, hadernd, angespannt, entspannt, gelassen, gelangweilt oder völlig unbeweglich. Sie verdienen unser Mitgefühl, weil an ihnen alles hängt, woran unsere Zivilisation hängt. Eine andere Art von Mitgefühl bringen wir nicht mehr auf. Nicht mal mit denen, die wir angeblich geliebt haben, und deren Nachrichten wir nicht mehr beantworten, auch ihre Telefonanrufe nicht, ihre flehenden Bitten, doch endlich ein Zeichen zu geben, nicht, auch ihr Weinen nicht. Der Markt, der uns befreit hat, um selbst noch freier zu werden, dem gilt unsere Aufmerksamkeit. Denn je weiter er sich ausbreitet, desto mehr expandieren auch wir, innen, die wir uns einreihen wollen in diese große Geschichte des Business, die auf eine einfache Formel zusammenschnurrt: Männer, die auf Zahlen starren. Zahlen, die uns eine schöne Zukunft voraussagen. Wieder und wieder. Und immer verpassen wir sie gerade. Und je mehr Zukunft wir verpassen, desto größer der Berg des Verpaßten hinter uns. Des Verpraßten, meinte ich. Warum sollten wir Märkte auch weniger verschwenden, warum? Und da stehen wir, und hören uns uns selbst ermahnen, daß wir sparen müssen, und hören ihm zu, diesem Monolog. Kapitalismus als Monolog des Geldes, ein ewig langes Selbstgespräch, das schon einen Großteil dieser Aufführung ausmacht, die da heißt: HIER SIND WIR, ZUSAMMEN UND DOCH GETRENNT UND VOR ALLEM GETRENNT VON UNS. Die Tragödie ist nicht, daß irgendein Absturz bevorsteht, auch wenn der noch kommen kann. Eher, daß das alles mit so vielen passiert und den meisten nichts anderes einfällt, als die Tragödie mitzuverwalten, gefangen in der Hoffnung, irgendwie zu überleben und sogar noch das zu erreichen, was uns unter dem Stichwort DAS GUTE LEBEN versprochen worden ist [von wem eigentlich?], und was sich eher zu einem anderen Stichwort gewandelt hat: DIE GUTE MIENE. Und so geht es für niemanden vorwärts. Die Geschichten kommen auch nicht mehr weiter, sie treten wie die, für die sie erzählt werden, auf der Stelle. Und die Geschichte davon, daß das so ist, erzählt wiederum kaum jemand. Aber auch das wird sich ändern. Denn ich gründe hiermit ein Institut, das sich um diese Fragen kümmern wird, das Institut für Postökonomie und Situation Tragedy. Und das wird die These vertreten: Wir befinden uns im Krieg. Und nicht nur in jenem, von dem Warren Buffett spricht, der Krieg der Klassen, den die Reichen gewinnen werden. Es ist ein Krieg, den wir schon verloren haben, gegen ein höheres Wesen, das uns das genommen hat, was uns ausgemacht hat seit, ja, seit wann eigentlich?, seit der Antike oder davor schon oder erst seit der Epoche der bürgerlichen Bewußtwerdung?: das sogenannte Menschliche. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das anzunehmen und diesem Verlust nicht nachzutrauern. Vielleicht reicht es uns, wenn die Märkte nun menschlich sind, und wir können uns endlich als Teile einer Erde begreifen, die eben nicht den Menschen gehört, die auch ohne sie auskommt. Ein Globus, auf dem verschiedene Lebwesen zusammen da sind und um dieses Zusammen-da-Sein wissen und an einem Zusammen-Bleiben interessiert sind. Ganz schön naiv, wa? Es kann ja nicht jeder wie Yves Saint-Laurent den eigenen Strick entworfen haben, an dem er sich aufknüpfen wird. Deshalb sage ich jetzt: Es werden wieder andere Zeiten kommen. Ja, das werden sie. Danke, Kassandra! Bittebitte. Und bis dahin könnte ich mich ja auch in Zärtlichkeit üben statt in Krieg. Ich bin mal raus. Und mische mich unter die Leute. Oder mische die Leute unter das, was ich ICH nenne, und das ganz sicher nicht weiß, wie es wirtschaften soll. Ja, laß uns die Tragödie, die uns teilen will, teilen. Wär das nicht eine gute Übung in Zärtlichkeit?
für den Katalog von Requiem für eine Bank, Hartware MedienKunstVerein Dortmund