
[drei Post-Its auf Super 8-Spulen von Rolf Dieter Brinkmann]
Ist es glamouröser, in Williamsburg überfahren zu werden oder in Hackney?
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Daß es diese Menschen auch in Bewegung gibt! Daß es diese vielen Menschen, die ich nur von Fotos kenne, deren Stimmen ich nur teilweise kenne, deren Namen noch am besten, daß die auch in Bewegung so da sind, auch wenn sie teilweise nicht mehr da sind! Ja, Film ist immer diese Berührung zwischen hier und da, zwischen life and death, und doch schützt mich dieses Wissen nicht davor, immer wieder von dieser Berührung berührt zu werden. [life transmission:] Mit dem Leben der Figuren in vierzig Jahre alten Filmen mehr anfangen können als mit dem Leben der Figuren aus vier Jahre alten Filmen. Mit den Figuren in den vierzig Jahre alten Filmen Brinkmanns, die nicht mal Figuren sind, sondern Menschen, also: so viel Figur wie in jedem von uns steckt, mit diesen Menschen mehr anfangen können als mit Menschen aus vier Jahre alten Filmen. Vielleicht weil meine Freunde so ähnlich aussehen wie die Menschen vor vierzig Jahren in Brinkmanns Filmen. Mit den Menschen in Brinkmanns Filmen mehr anfangen, weil ihre Geschichten sind, was sie sind, keine Teile einer großen Geschichte, einfach nur Teile ihrer Lippen, ihrer Lidschatten/Wimpern, ihrer Überbelichtung. Mit den Menschen in Brinkmanns Filmen viel anfangen, auch wenn die Filme erkennbar vierzig Jahre alt sind, gerade weil die Filme älter sind als wir, meine Freunde und ich, älter, aber genauso fehlerhaft, ihre Brandspuren, ihr Flackern, ihre Überbelichtung. Nein, Überbelichtung ist nicht überbewertet, sage ich, leider immer noch nicht überbewertet, sage ich, vor dem überbelichteten Bild. Und das Bild zeigt: Maleen Brinkmann, die sich die Haare föhnt. Rolf Dieter Brinkmann, der Maleen Brinkmann filmt, die sich die Haare föhnt. Rolf Dieter Brinkmann, der Rolf Dieter Brinkmann filmt, eine Super 8-Kamera auf sein Spiegelbild gerichtet. Ein Spiegelbild küssen, das eigene Spiegelbild mit Zunge küssen, ablecken, mit tuschierten Wimpern [nicht: retuschierten], überzeugender noch, ja, vielleicht noch überzeugender als der Mund von Mario Montez, der eine Banane ableckt in Andy Warhols Mario Banana. Eine Türklinke ablecken, die noch überzeugender zu lecken ist als die Banane durch den Mund von Mario Montez, ja, hätte ich auch nicht gedacht. Eine Türklinke und ein Spiegel für einen sexualisierten Körper, der irgendwohin muß, mit dieser sexuellen Energie in den Sechzigern, in den Sechzigern auf Super 8 Porno zu drehen, das ist nicht ungewöhnlich, auch das hier nicht, ach, das hier schon, ein unmittelbares Aufeinandertreffen zweier Raumelemente, eines davon ein Körper, menschlich, das andere: Spiegel, Klinken, oder auch mal ganz dicht am Geländer entlang, Architekturporno, immer noch besser als Pornoarchitektur, wobei Architektur [nicht nur im Porno] immer etwas Unverständliches an sich hat, immer einen Abstand zu uns sucht, einen Unterschied, und dennoch wird das gerade deshalb möglich, das Zusammenleben mit ihr, als Unterschied, und auch unser Zusammenleben in ihr, hier, wo wir zusammenleben, als Unterschiede, yes, yesyes, let’s go for it!
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Männer als Männer verkleidet. Männer als Frauen verkleidet, die als Männer verkleidet sind. Frauen als Männer verkleidet, jetzt auch: auf Rolltreppen. Auch in den Texten, Collagen, Fotos Brinkmanns ist das da, aber anders da. Und deshalb kann ich erst jetzt, nach den Super 8-Filmen sagen: Daß Brinkmann für mich von einem seltamen Beigeschmack befreit ist, der Beigeschmack, vielleicht verortet in einem norddeutschen Dialekteinschlag in seiner Stimme, vielleicht verortet in einem Blick auf die sowieso schon sexualisierten Frauenkörper, vielleicht verortet im Blick auf das eigene Geschlechtsteil, der Beigeschmack, dieses ganze Brinkmannuniversum sei trotz aller Versuche, da rauszukommen, doch vor allem ein sehr heteronormes, ein Mann und eine Frau und ein Kind als [schwierige] Konstellation, zu sehr den ersten Roman mit diesem Leben verwechselt, vielleicht. Stattdessen nun: Super 8-Köln, ein Kostümfilm mit Rolf Dieter Brinkmann: Brinkmann in Drag, kunstvolles Makeup, Absatzschuhe, ausladende Perücke, ausladende Perücke als einladende, drag = dressed as girl, drag = dressed as guy, drama = dressed as man? Jedenfalls sagen mir die Super 8-Filme, daß da noch mehr ist, in den drag performances, klar, das ist auch der Versuch, ein bißchen NY nach Köln zu holen, um dort doch irgendwie leben zu können, klar, auch die Heroinnadeln/Insulinnadeln/Testosteronnadeln, die Stichwunde danach noch auslecken, wie gesagt, Pornos mit der Super 8 drehen, nicht ungewöhnlich, in den Sechzigern nicht, in den Siebzigern nicht, in den Achtzigern?, ja gut, da kam dann schon VHS, dank Pornoindustrie DAS neue Aufzeichnungsmedium, aber erstmal noch Sechziger und erstmal: Cruising mit Rolf Dieter Brinkmann. Eine sehr unbestimmte Landschaft, dieses ganze visuelle Universum, das ja auch jetzt nur erahnbar ist, auf DVD. Ein Cruising, das allein Brinkmann für mich weit wegholt von einer heteronormen Welt, und zwar nicht weil hier Männer Männer verfolgen, auf Rolltreppen, Cruising, in dem der Raum aufgegeben wird, als Territorium aufgegeben und in Bewegung gebracht, Bewegung: jenes Moment, »über das wir am Raum teilhaben, verantwortlich dafür sind, Raum immer wieder neu zu erzeugen« [Helge Mooshammer]. So what about Raum in these tapes, Mister Brinkmann?
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[live transmission:] Fotos abfilmen, Poster abfilmen, Zeitungsartikel abfilmen, um mit der Geschwindigkeit des Blicks, seiner Ruhe/Unruhe, seiner Ferne/Nähe zu dem, was er erblickt, eine Erzählung zu finden, das stumme Blicken [remember Brinkmann on audio tape: das stumme Atmen als Erzählen]. Räume abfilmen, in denen man lebt, ohne Menschen in ihnen, die eigene Wohnung zum Beispiel. Explosionsgefährdete Anlage! Ein abgefilmtes Schild, vielleicht irgendwo in der norddeutschen Landschaft, wo Brinkmann und Brinkmanns Kamera sich gern zusammen aufhielten. Die gesamte Nachkriegslandschaft als explosionsgefährdete Anlage [die ja auch gerade erst um ein ganzes Stück kleiner geworden ist, zwanzig Jahre vorher, es ist nicht so, als hätte die Landschaft das schon verwunden]. Die Nachkriegslandschaft und ihre Menschen, zum Beispiel in Norddeutschland, zum Beispiel in Niedersachsen, Menschen mit einem immer noch präsenten Kriegston als Nachkriegston, Naziton als Entnazi-Ton, vergleiche neben Brinkmann auch Vespers Reise, aber auch die Kreise, aus denen Josef Bachmann kam [nun auf einmal doch kam]. Diese Nachkriegslandschaft im Norden, aus der auch meine Eltern kamen, und die ich selbst nur noch viel später kenne, von Brinkmann gefilmt mit einer Super 8-Kamera, auf deren Linse ein Streifen Dreck, ein Dreckstreifen, ein Drecksstreifen, der eben mitwandert, wenn man diese Nachkriegslandschaft nach dem Krieg filmt, etwas wandert mit und wandert mit und. Und, nein, diesmal ist es kein historisches Kostüm, das wandert! Wenn alles andere in den Kostümfilmen der Fünfziger und Sechziger aus Deutschland wenigstens so ausladend wäre wie die Kostüme! Wenn das, was die Körper erzählen, nicht immer gleich einen ganzen Teil der jüngsten deutschen Vergangenheit ausladen würde [oh, nein, bitte nicht hier herein, diese jüngste Vergangenheit kennen wir alle, die jetzt nicht schon wieder]! Und deshalb. Allein deshalb nochmal mehr das Verstehen darüber, was diese nackten Körper in den Super 8-Filmen Brinkmanns, was die da tun, nämlich versuchen, sich von etwas zu befreien, nicht vom Dreckstreifen, den diese deutschen Räume nun tragen, immer tragen, befreien von dem Verschweigen dieser Vergangenheit, in den Dörfern, in den Familien, in den Körpern selbst. Nackte Körper [im Versuch, sich zu befreien] gegen nackte Landschaften [ohne Menschen, im Versuch, befreit zu erscheinen, was nie gelingen wird]. Halbnackte Körper, mit künstlichen Wimpern ausgestattet, Seifenblasen pustend. Wem gehört hier was? »Der Körper hat unweigerlich eine öffentliche Dimension; als ein in der Öffentlichkeit geschaffenes soziales Phänomen gehört mir mein Körper und gehört mir auch wiederum nicht.« [Judith Butler] Versuche, sich fremd zu werden, um darin endlich etwas zu fassen zu kriegen, von sich. Nackte Körper, halbnackte, verkleidete, immer anderen ausgeliefert und immer auch die einzige Möglichkeit, etwas zu sagen, »es existiert kein Aussagen ohne diesen Körper« [Butler], und das wäre dann Brinkmanns Waffe, das nach vorn richten, das Ausgeliefertsein als Waffe in diesem Spiel namens Leben, das heute noch immer gespielt werden muß, auch in diesem Jahrtausend, gerade in diesem. Kein Wunder. It’s still the best game in town.
für: Rolf Dieter Brinkmann: Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper, hg. von Thomas Boyken, Ina Cappelmann & Uwe Schwagmaier, Wilhelm Fink Verlag 2010