
1 MTV gibt Bilder, ich spreche Sätze
Wenn hier noch ein Foto von mir abgedruckt wird, bitte den Bildstreifen dranlassen, damit jeder weiß, daß es kein digitales Foto ist. Ok? Danke. Dann gehts los: 1981 geboren, drei Wochen nach MTV, aber indem ich das sage, berichte ich nur von mir. Denn natürlich möchte ich mich nicht nach vorn stellen als Generation MTV, eher als Audiokommentar, der aus dem Off kommentiert, das heißt: MTV gibt Bilder, ich spreche Sätze, und es wird MEINE Erfahrung sein, von der ich berichte, Erfahrung keiner Generation. Aber jetzt mal von vorn: 1981 in einer kleinen deutschen Hauptstadt geboren, aber man suche sie nicht auf der Karte von Deutschland [beim Anschauen der Karte denken: das sollst du sein], sie ist nicht mehr Hauptstadt, aber wenigstens noch Stadt in dieser neuen Republik. 1998 ist diese Republik endgültig da. Goodbye, Kohl. Goodbye, Sozialdemokratie. Goodbye, Republik 1.0, in der ich aufwachse. Aufwachsen, aber nicht allein, sondern mit Freunden. Einmal mit den Freunden neben mir auf dem Schulweg oder vorm Fernseher, und einmal mit den Freunden im Fernseher, in TV-Serien, Videoclips, Videospielen, mit den Videospielkonsolen selbst, mit den Controlpads der Videospielkonsolen [wie sie sich in der Spielbewegung eindrücken, in die Hände]. Lebenszeit, ich habe so viel Lebenszeit mit diesen Geräten verbracht und mit den Geschichten, die sie mir erzählten, sie und ihre Popstars: Spiderman, Michael Jackson, Zack McKracken, in entlegenen Ecken des Bildschirm, von denen ich nie gedacht hätte, daß ich sie lieben könnte. Das waren Zeiten! Zeiten, wie sie mich heute noch suchen und vermissen, fast mehr als ich sie. Zeiten der Beschleunigungserfahrung, nicht nur für mich, auch für die Geräte um mich herum. Zeiten, die dann irgendwann das Web hervorbringen und sich so noch mehr in die Wahrnehmung einschreiben, in meine Augen, meine Hände, Synapsen. Durch Fernsehsendungen, die ich zu jedem Zeitpunkt auswählen kann. Durch Fehlermeldungen, die eintreffen, bevor ich die Mail verschickt hab. Durch Bekennervideos, deren Previews im Netz uns über Explosionen informieren, noch bevor die geschehen, in anderen Teilen der Welt oder nebenan. Umso schlimmer, daß der Republik 1.0 doch keine Republik 2.0 folgt, sondern 1.01 oder 1.1. oder 2.010, oder wie auch immer Schröder sie numerieren würde, nur so sicher nicht: 2.0 [interaktiv, kollaborativ, social]. Mit dem Web ist das Digitale da, jetzt wird es nur Zeit. Zeit, es als eigene Ordnung anzuerkennen, nicht so zu tun, als wäre es dem Analogen ähnlich, zumindest soll es ähnlich aussehen, sich ähnlich anfühlen, anhören, vergleiche: das mechanische Klicken der Digitalkamera. Am Rand des Fotos wird der Bildstreifen als Bildstreifen belassen, damit jeder merkt, daß es eine analoge Fotografie ist, also eine WIRKLICHE Fotografie, mit allem, was sie ausmacht, mit allem, was sie nicht ausmacht. Mach den Blitz aus! Ach nein, der Red Eyes Effect in Photoshop steht schon bereit, um rote Augen nachzubearbeiten. Bald auch: Closed Eyes Effect für Augen, die geschlossen sind, offen erst nach der Nachbearbeitung. I simply love the 21st century. Für solche Möglichkeiten, die bisher unmöglich schienen. Oder für die Tatsache, daß das Wort Bandsalat schon 2006 auf der Liste vom Aussterben bedrohter Wörter stand [und doch überlebt hat]. Oder für die HDR-Bilder, bei denen man in zehn Jahren klar sieht, das kann nur ein Foto aus den Nullerjahren sein, schon in zehn Jahren sieht man das, in fünf, vier, drei.
2 weniger Atempausen, mehr Geschichte
404: Es ist ein Fehler aufgetreten. Du hast Dich verlaufen! Der angesteuerte Beitrag existiert nicht. Und jetzt? Time to ring Marshall McLuhmann? Am Telefon sagt der: Alles, was außen geschieht und innen, ist medial. Dennoch checken, daß Realität auch in digitaler Form an die Zimmertür klopft, ans Stadttor, an die Tore Europas. Anstehende Katastrophen, die so lang anklopfen, daß man denkt: Der Beat gehört einfach dazu, oder? Diese Katastrophen vergessen ist im digital age zum Glück viel anstrengender, weil man immer erinnert wird: Möchten Sie ihre Existenz wirklich löschen? Immer noch einen Klick mehr, um zu vergessen. Alles wird behalten und ist deshalb available, auch du, zu jeder Tageszeit, Nachtzeit, 24 Stunden. Die Erdgeschichte in 24 Stunden. Dein Leben in 24 Zeilen, als elektronisches Protokoll, sichtbar in der Chronik des Firefox. »So verschieden ist mein Heute von jedem meiner Gestern«, kann Stefan Zweig noch schreiben, aber unser Heute ist verschieden von unserem Heute. Oder checkt man die Updates nur schneller, dank Twitter und anderer Mikroblogs, die nicht nur mir, sondern auch den Menschen, an die ich angeschlossen bin, die ganze Zeit erzählen, was ich tue? Gerade das wird unsere Praxis von Identität hoffentlich endlich verändern. Denn natürlich geht es nicht nur darum, noch eine Mailadresse einzurichten oder noch einen Raum und noch ein Gesicht zu bekommen, bei Myspace und Facebook. Es sind verschiedene Existenzen, die ineinander geschachtelt in uns existieren, und ich muß nicht fragen: welches Leben?, weil ich sowieso nicht antworten kann, eindeutig. Darin nicht nur Marketing sehen, oder ein Second Life, in dem man der Realwirtschaft etwas hinzufügen kann, und auch nicht nur die Möglichkeit, unverbindlich zu flirten, auf love24.de. Erkennen, daß das, was im Web passiert, nur zeigt, wie Identität funktioniert, immer, und daß für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte diese Möglichkeit im Dunkeln blieb, weitgehend. Die Erdgeschichte in 24 Frames pro Sekunde. Innerhalb der letzten Mikrosekunde dieser Geschichte, im Frame des Neogens: ein Bild, in dem sich Silicium, Beton und Glasfasern zusammendrängen. Das wäre das digital age, im Diagramm der Erdschichten, in der Geochronologie, Zeit, wie sie uns sucht und sucht und sucht. Oder Google, wie sie uns sucht und findet, in 0,03 Sekunden. Beschleunigungsverfahren, die dir den Atem nehmen. Beschleunigungsverfahren, nicht nur für den Atem, auch für deine Identität. Und jetzt bitte nicht denken, es wäre das Ende der Welt, weil Identität nicht mehr ohne Fehlermeldungen funktioniert, eher: die Atempausen nutzen. Wenn man dann Atem holt, um Atem zu holen, verstehen: Ich muß mich selbst sehen, in meiner Vergangenheit, in meiner Gegenwart, sehen, daß ich mich so oft verändert habe, daß niemand es zählen kann, erzählen kann. Wenn ich das meiner Kamera erzähle, sagt sie mir: Das weiß ich schon lang. Und sie zeigt mir Bilder von dem, was einer angemessenen Praxis von Identität im alltäglichen Leben entgegensteht: Ideologien der old new economy, new new economy oder whatever. Diese Weltfinanzwelt, die für mich etwas ganz anderes ist als die world wide world, auf die ich hinauswill, allein, weil sie die ganze Zeit mit Grace Jones singt: i’ll consume my consumers / with no sense of humor. Weltfinanzwelt, maßlos ökonomisch, ökonomisch maßlos. Weltfinanzwelt, tonight, on Sick Sad World. Auch die Geschichte wird in diesem Jahrtausend nicht weniger sick, nicht weniger sad und wird nicht weniger sparen, mit Katastrophen, warum auch? Roland Emmerich und Bernd Eichinger wollen ja auch nie hinter die Verschwendungen ihres letzten Films zurück, nie. Katalog der Katastrophen, jetzt bestellen, in der Onlineversion, unter lovegermany24.de oder loveeurope24.com, je nach Standort, klick hier, für frei!
3 ein gemeinsames Leben, von Anfang bis Ende
Wir werden immer weniger Atempausen kennen, und die Geräte um uns herum haben immer mehr erlebt als wir. Wir werden immer mehr Wahrnehmungen und Erfahrungen mit diesen Geräten teilen müssen, um noch zu atmen. Wir werden immer mehr Atem holen müssen, um Atem zu holen. Technologien, die uns dabei helfen können, noch ehe sie entwickelt sind. Technologien, die uns wenigstens einen Schritt näher ans 22. Jahrhundert heranlassen und einen Schritt weg von The Day After Tomorrow und anderen Krisenfilmen und ihrer Verschwendung, weg von Beschleunigungsverfahrung. Es gibt kein Land, in das man flüchten kann, keine kaufbare Ruhe vor dem, was uns erwartet. Es gibt nur ein Zusammenleben, das zu wagen ist, eine world wide world, in der Geräte und Geräte genau so verlinkt sind wie Menschen und Menschen, genau so wie Geräte und Menschen. Das aber setzt voraus, Identität endlich als ständig sich verändernd und veränderbar zu sehen und nicht mehr als Ausrede, auf deren Grundlage wir die anderen zu anderen erklären, die sogenannten Entwicklungsländer oder die iPhones. Entwicklungsländer und iPhones funktionieren nach Mechanismen, die wir angeblich nicht verstehen können und immer draußen stehen und uns wundern, warum etwas nicht funktioniert, anstatt uns selbst als Entwicklungsland zu begreifen oder als iPhone. Die Räume und die Geräte endlich als Teil des Menschen und der Geschichte erkennen anerkennen und nicht nur flirten, mit europäischen Städten und iPods, auf lovecentury19.de. Wenn ich das meinem mp3-Player erzähle, sagt der nur: Ich nehme ja auch anders wahr als die Generationen vor mir, jetzt, wo ich auch noch Videos zeige. Und dann zeigt er ein Video, Titel: Erinnerungen keines Europäers. Und ich denke an andere Heimaten, die das Herz vielleicht noch mehr will, weil es über Europa hinauswill, hinaus, so Europe won’t break us down. Erinnerungen keines Europäers, sondern eines Menschen aus der restlichen world wide world. Erinnerungen eines Menschen, der woanders lebt als im Westen der Welt, der überall ist. Erinnerungen eines Menschen, der keine Nation als Heimat braucht, eines Heimatlosen, der gerade deswegen neue Heimaten findet, in Räumen, in denen andere mit ihm zusammenleben, mit ihm, als iPhone, als Entwicklungsland, Entwicklung eines Menschenbildes, das endlich über den Menschen Europas hinausgeht. Mark Terkessidis sagt: Eine Gruppe, die sich nicht mehr über eine gemeinsame Vergangenheit, sondern über eine gemeinsame Zukunft definiert. Von meiner Vergangenheit brauche ich nichts, nur, was sowieso gespeichert ist. [keep the past:] Das im Cache haben, um sich einzulassen auf die, die ganz anders sind, mit denen wir leben wollen und müssen, ich sage es einmal und noch einmal. [keep the past, the future is ours:] Das sang Kele Okereke von Bloc Party damals, 2008, Album: Intimacy. [keep your intimacy, keep your memory:] Erinnerung an eine Zukunft, wie sie uns 2048 lächerlich scheint, weil wir dann wissen, was wir heute sind. Oder, wie Peggy Phelan schreibt: The future is the stage that promises to dramatize our pasts, to enact them in such a way that we might begin to understand them, touch them, to know them, to become intimate with them. Intimacy / Intimität und Nachhaltigkeit. Na klar, bei Liebe nachhaltig sein, ist schwer. Obwohl, Nachhaltigkeit bedeutet ja auch mehr, als aufladbare Batterien zu kaufen, mehr, als Ressourcen zu horten, mehr, als eine Mauer um Europa zu bauen oder dein Herz. Unsere Geschichte verteilen an alle, die an ihr teilhaben wollen, in the upcoming centuries, against the downdumping centuries. Let’s start! Let’s start, let’s let’s. START, NOW!
für: FAZ, 31.12.2008